In Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union 1947–2007 befasst sich Frank Schorkopf gewissermaßen mit einem Phantom der europäischen Integration. Denn zuletzt scheiterte der Versuch eine Verfassung für die Europäische Union zu etablieren an den Referenden Frankreichs und der Niederlande im Frühjahr 2005. So fragt Schorkopf denn auch selbstkritisch: »Nimmt dieses Buch […] Partei für die Denkströmung des progressiven europäischen Konstitutionalismus oder ist es mit Blick auf seinen Gegenstand gegenüber der klassischen Verfassungshistoriografie nur unbedarft?« (13). Er beantwortet diese Frage, indem er seiner Leserschaft darlegt, warum er eine europäische Verfassungsgeschichte schreibt. Sie dient ihm als Instrument, um »für das Handeln der Europäischen Union einen Maßstab zu entwickeln« (14). Damit grenzt der Autor sich von den Argumentationsströmungen ab, die die EU entweder als unvergleichliche Ordnung sui generis betrachten oder ihr im Vergleich mit Staaten zwangsläufig ein Demokratiedefizit attestieren. Gleichwohl überträgt er mit der Verfassungsgeschichte ein staatsgebundenes Konzept auf das »organisierte Europa«, so Schorkopfs Bezeichnung für sämtliche die europäische Verfasstheit prägenden Einrichtungen, Ideen und Konventionen.

Seine titelgebende, wenngleich wenig spektakulär anmutende Kernthese fasst Schorkopf in einem Satz zusammen: »Nach sechs Jahrzehnten europäischer Einigung ist durch das Neben- und Miteinander von drei Denkströmungen im organisierten Europa eine politische Ordnung entstanden, in der die Frage konstitutioneller Autorität unentschieden ist« (16). Bei den drei Denkströmungen bezieht er sich auf Konstitutionalisten, Gouvernementalisten und Pragmatiker, wobei manches Mal im Vagen bleibt, welche Akteure Schorkopf genau meint, wenn er von den Anhängern der jeweiligen Denkströmungen schreibt. Nicht nur deshalb ist fraglich, ob es diesen theoretischen Überbau brauchte. Befürworter verschiedener Formen europäischer Integration gab es immer – ebenso wie deren Gegner. Wie etwa Integrationsskeptiker und -gegner die Konstitutionalisierungsprozesse Europas prägten, wäre ebenso interessant zu untersuchen, wird aber kaum thematisiert.

Schorkopf gelingt es, die komplexen und dichten Inhalte seines Werks schlank und stringent aufzubauen. In drei chronologischen Teilen, die insgesamt 16 thematisch strukturierte Kapitel umfassen, zeichnet er die konstitutiven Elemente im Entstehungs- und Entwicklungsprozess des »organisierten Europas« nach. Der erste Teil beschreibt, wie sich die Gründer des Europarats und der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) sowie schließlich der Europäischen Gemeinschaften (EG) ihres »verfassungshistorischen Setzkastens« (71) bedienten und die an Staatlichkeit gebundenen Pfade verließen. Ab Mitte der 1960er-Jahre habe das Vorabentscheidungsverfahren, zusammen mit den weitreichenden Befugnissen der Kommission und der Mehrheitsentscheidung im Rat der EG, »ein magisches Dreieck europäischer Einigung durch die Logik des Rechts« (121) gebildet. Der Rat, der sich selbst ab 1969 in intergouvernementaler Weise zu einem »neuen Bezugspunkt europäischer politischer Herrschaft« (152) erkor, steht im Zentrum des zweiten Teils. Er steht symbolhaft für die unentschiedene Macht, weil er einerseits selbst eines der Organe der Gemeinschaft geworden ist und andererseits die Mitgliedstaaten in den Vordergrund stellt. Gleichzeitig wurde er zur Triebfeder für wichtige und umstrittene Integrationsschritte wie die Währungsunion oder die Direktwahl und die Kompetenzaufwertung des Europäischen Parlaments.

Eine prozesshafte Verfassungswerdung, die insbesondere seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 deutlich zutage trat, zeichnet Schorkopf im dritten Teil nach. Die vertiefte Integration – mit dem von Kommissionspräsident Jacques Delors in den Mittelpunkt gerückten Subsidiaritätsprinzip, der Entwicklung des Grundrechtsschutzes und der Sozialpolitik, der Unionsbürgerschaft bis hin zum 2001 einberufenen Konvent zur Zukunft Europas – stärkte einerseits den konstitutionellen Charakter der Europäischen Union. Diesem liefen jedoch andererseits die Sonderrolle des Vereinigten Königreichs und der gescheiterte Verfassungsvertrag zuwider.

Schorkopf arbeitet die beiden entscheidenden Triebfedern der Verfassungswerdung heraus: Die Rechtsprechung des EuGH und die Entscheidungen des Europäischen Rats. Beiden unterstellt er eine Wechselwirkung – ob nun der EuGH die politische Erwartung vorerfüllte oder der Rat sich großzügig zeigte, indem er die expansive Rechtsprechung akzeptierte, lässt Schorkopf offen. Hierüber könnten weitere Archivrecherchen oder Forschungsprojekte wie das oral history-Projekt des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie Aufschluss geben.

In diesem weitgehend auf die Entscheidungen des Rats und des EuGH fokussierten Narrativ bleiben zudem zwei Aspekte wenig beleuchtet. Zum einen wird das Europäische Parlament in Schorkopfs Verfassungsgeschichte überwiegend als passiver Akteur behandelt, über den mehr entschieden wurde, als dass er selbst agierte. Zwar geht er ausführlich auf den sog. Spinelli-Entwurf von 1984 ein, der die Gründung der Europäischen Union vorsah. Doch die weiteren Arbeiten des Institutionellen Ausschusses werden kaum behandelt und der Verfassungsentwurf von 1994 in wenigen Sätzen als bedeutungsschwach abgetan. Zum anderen geht Schorkopf nur am Rande auf die nationalen und globalen gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Entwicklungen ein, die jedoch die Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs – also des von Schorkopf selbst zum entscheidenden Akteur erklärten Gremiums – in vielen Fällen determinierten. Schließlich waren es auch akute nationalpolitische Beweggründe, sozial- oder wirtschaftspolitische Großwetterlagen und internationale geostrategische Überlegungen, die der Europäischen Union ihre Form gaben und Machtstrukturen mitentschieden. Die theoriegeleitete Erzählung Schorkopfs lässt diese Faktoren zu Unrecht in den Hintergrund rücken.

Indem Schorkopf die Verfassungsgeschichte als Objektiv nutzt, gelingt es ihm, eine neue Perspektive auf die Europäische Integration zu öffnen. Die auf zahlreichen Forschungsarbeiten aufbauende Untersuchung ist dank der klaren, schnörkellosen und zum Teil bildhaften Sprache einem breiten Publikum zugänglich. Für Historikerinnen und Historiker, die sich bereits intensiv mit der EU-Geschichte auseinandergesetzt haben, enthält die Erzählung über »Die unentschiedene Macht« zwar wenig Neues. Innerhalb des Rechtsdiskurses gehört Schorkopf mit seinem Ansatz jedoch zu den Vordenkern, da er das bis dahin nur auf Nationalstaaten angewandte Konzept der Verfassungsgeschichte erstmals konsequent auf die Europäische Union anwendet. Damit geht er eine Frage an, die für die künftige Gestaltung der Europäischen Union, insbesondere für die Frage ihrer Demokratiefestigkeit, von großer Bedeutung ist. Darüber hinaus gelingt es Schorkopf, die »Machtarchitektur der Europäischen Union« (19) sowie deren Mechanismen und Dynamiken besser verständlich zu machen und eine Gesamtdarstellung zu einem in der Rechtsgeschichte vieldiskutierten Thema anzubieten, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsarbeiten enthält.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anna Quadflieg, Rezension von/compte rendu de: Frank Schorkopf, Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948–2007, Göttingen (V&R) 2023, 381 S., 19 s/w Abb., ISBN 978-3-525-30219-4, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2024/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108221