Der Suhrkamp Verlag hat in den letzten Jahren verdienstvollerweise mehrere wichtige Arbeiten zum Zustand und zu den Perspektiven der Demokratie veröffentlicht. Erinnert sei an Autoren wie Philip Manow, Adam Przeworski, Armin Schäfer und Michael Zürn.1 Nun also zwei neue Bücher – und die Diagnosen fallen teilweise noch düsterer aus. Zerfallserscheinungen der Demokratie und Demokratiedämmerung lauten dementsprechend die Titel. Was unterscheidet die Bücher von der kaum noch überschaubaren Literatur zur Krise der Demokratie?

Craig Calhoun, Sozialwissenschaftler an der Arizona State University in Phoenix, Dilip Parameshwar Gaonkar, Professor für Rhetorik und öffentliche Kultur an der Northwestern University in Evanston, und Charles Taylor, emeritierter Professor für Philosophie an der McGill University in Montreal, sehen die Besonderheit ihrer Gemeinschaftsarbeit darin, dass sie »die langfristigen Zerfallserscheinungen der Demokratie von innen heraus betont« und gleichzeitig »die Bedeutung sozialer und kultureller Grundlagen für die Erneuerung der Demokratie deutlich macht« (10). Die drei Autoren gehen bei ihrer Untersuchung arbeitsteilig vor: während Calhoun und Taylor die Vereinigten Staaten von Amerika und andere westliche Demokratien in den Blick nehmen, konzentriert sich Goankar auf Indien, wo eine »beeindruckende demokratische Geschichte mit massiver Ungleichheit und großer Heterogenität zu kämpfen hat«. Mit Verweis auf die »Politik der Straße«, die in Indien zumindest zur Zeit eine größere Rolle spiele als beispielsweise in den USA, teilt er den »entschlossenen Optimismus« seiner Mitautoren nicht zu Gänze, sondern fürchtet vielmehr eine Phase der »hässlichen Demokratie« (24–25).

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Zunächst identifiziert Taylor drei zentrale Faktoren der »jüngsten Abwärtsspiralen des Zerfalls«: die »Entmächtigung der Bürger«, das »Scheitern der Inklusion« und das »hyperparteiische und majoritäre Streben nach politischen Siegen auf Kosten einer gemeinsamen Zukunft« (11). Vor diesem Hintergrund plädiert er für eine »neue Solidarität« und eine »auf das Gemeinwohl ausgerichtete Politik« (77). Anschließend setzt sich Calhoun in zwei Kapiteln mit dem durchaus widersprüchlichen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus auseinander. Er betont die Rolle der Sozialdemokratie bei der sozialen Unterfütterung der politischen Demokratie – eine Entwicklung, die in den späten 1970er- und den 1980er-Jahren durch den Neoliberalismus abgelöst wurde. Diese neue wirtschaftspolitische Ära sei dadurch gekennzeichnet gewesen, dass die Arbeiter ihre gewerkschaftliche Vertretung verloren und die Beschäftigungsstrukturen sich »asymmetrisch zugunsten der Arbeitgeber« verschoben hätten, kurz: die »Ungleichheit hat zugenommen«, die »Solidarität wurde untergraben« (212) – keine guten Voraussetzungen für die Demokratie.

Mit zwei weiteren wichtigen Prinzipien – Authentizität und Meritokratie – befassen sich Calhoun und Taylor im nächsten Kapitel. Ersterer Begriff meint das »Ideal der Selbstdefinition und Identität« (213), letzterer das »Ideal der Gerechtigkeit als Fairness« (214). Beide seien mittlerweile »mitschuldig an der Legitimation enormer Ungleichheit und schwindender Solidarität« (ebd.) Hier findet man übrigens auch eine kurze und präzise Auseinandersetzung mit David Goodharts These von der wachsenden Kluft zwischen den »Anywheres« und »Somewheres«, auf die sich beispielsweise Alexander Gauland von der Alternative für Deutschland bezieht. In den nächsten beiden Kapiteln geht Goankar mit Akzent auf Indien der Frage nach, wie »die hässliche Demokratie die gute Demokratie von innen heraus untergräbt« (269) und wie wir angesichts dieser Entwicklung »den demos sicher für die Demokratie« machen können (258). Er schlägt vor, das Konzept der »direkten Aktion«, wie es von Gandhi und Martin Luther King entwickelt wurde, »neu zu denken« (311) und »die vielen Formen und Genres ihrer Ressourcen und Energien zu nutzen«, anstatt »vergeblich darum zu kämpfen, ihre Ausbrüche zu löschen« (330).

Was tun? Dieser Frage widmen sich wiederum Calhoun und Taylor im umfangreichen vorletzten Kapitel. Sie erhoffen sich eine »echte demokratische Erneuerung« von einer Politik, »die das gesamte Spektrum der Probleme im Leben der Bürger aufgreift«. Nur wenn »wir uns in großen nationalen und lokalen Projekten, beim Aufbau von Institutionen und bei der gegenseitigen Unterstützung zusammenschließen, können wir Solidarität und Demokratie erneuern« (412).

Dem wird man kaum widersprechen wollen – doch bleibt dieser Appell recht allgemein. Das Buch mündet in das Fazit, dass die Demokratie »nicht nur von formalen politischen Verfahren« abhänge, »sondern auch von sozialen Voraussetzungen« wie einer wirksamen Beteiligung der Bürger und der »kollektive(n) Anerkennung des inklusiven Gemeinwesens« (452). Der Anspruch der drei Autoren, mit der Konzentration auf die inneren Zerfallserscheinungen der Demokratie neue Wege beschritten zu haben, vermag mit Blick auf die einschlägige Forschung nicht zu überzeugen. Dennoch lohnt die Lektüre: zum einen wegen der Verknüpfung unterschiedlicher wissenschaftlichen Zugriffe, zum anderen wegen der Fülle an Material. Und immerhin glauben die Autoren – zwei mehr, einer etwas weniger – noch an die Erneuerungsfähigkeit der Demokratie.

Daran glaubt Veith Selk, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt und Senior Fellow am Point Alpha Research Institute in Geisa, nicht mehr. Sein Buch ist die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift von 2021. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass »die Erzählung von der unangefochtenen normativen Vorzugswürdigkeit der Demokratie, der bestmöglichen Legitimation mittels demokratischer Verfahren, der Problemlösungsfähigkeit demokratischer Regime sowie der Entstehung flexibler, anpassungsfähiger und gestaltungsfreudiger politischer Subjekte« fragwürdig geworden sei. Die daraus resultierende »Demokratieskepsis« hält er, im Unterschied zu manchen seiner Kollegen und Kolleginnen, für »begründet«. Als Ursache des Niedergangs identifiziert er einen Prozess der »Devolution« (11). Darunter versteht er eine »demokratieaverse Tendenz der sozioevolutionären historischen Entwicklung« (20). Haben wir es dabei, so seine Frage, »mit einer Transformation, einer Krise oder einem Formwandel der Demokratie« zu tun – »oder aber mit ihrem nahenden Ende« (18)? In seinem Buch legt er ausführlich und theoretisch reflektiert dar, warum er dazu einen zutiefst pessimistischen Standpunkt vertritt.

Selk erledigt dieses Vorhaben in vier Schritten. Zunächst erinnert er daran, dass die Devolution »nicht das Ergebnis eines Rückfalls auf vergangene Entwicklungsstufen« sei, sondern ein »Effekt fortschreitender soziopolitischer Entwicklung« (24), nämlich erstens einer »intensivierten Politisierung« ohne damit einhergehender »sozial breiter Inklusion«; zweitens der »Zunahme von Differenzierung und Komplexität, die das politische Leben opak werden« lasse und die »bürgerschaftliche Wir-Identität« auflöse; drittens der »wachsenden Kognitionsasymmetrie innerhalb der Bürgerschaft« mit der Folge unterschiedlicher »politischer Informiertheit«; und viertens der »Vertiefung soziopolitischer Ungleichheit im Kontext des Endes des demokratischen Kapitalismus als einer zentralen politökonomischen Befriedungsinstitution« (31).

Im nächsten Schritt stellt er drei Reaktionsformen auf die Defizite demokratischer Politik vor: den Rechtspopulismus, die Expertokratie und die partizipative Governance. Allen drei Alternativkonzepten sei gemeinsam, dass sie »die Demokratie kritisieren, sie aber nicht in Gänze ablehnen«. Allerdings böten sie »keine überzeugende Antwort« auf die »Demokratiedämmerung«, weil sie »auf funktionaler Ebene keine hinreichend legitimierbare und damit praxistaugliche Lösung« darstellten und auch in normativer Hinsicht »nicht überzeugen« könnten (91). Mit anderen Worten: Die »Hoffnung auf eine Re-Demokratisierung oder gar auf mehr Demokratie« erweise sich als »Schimäre« (92).

Beispielsweise bedeute mehr Partizipation nicht automatisch mehr Demokratie, weil Partizipation »in hohem Maße sozial selektiv« sei (141). Daran nehme nämlich nur ein »kleinerer Teil der Bürgerschaft aktiv« teil, ein größerer Teil sei »kein Subjekt von Politisierung« (156); somit bilde sich »weiter unten in der sozialen Hierarchie im Kontext der Erfahrung der Zunahme von soziopolitischer Ungleichheit ein entweder antipolitisches Bewusstsein heraus oder aber ein Frustrationsgefühl infolge des Bewusstseins der Unwirksamkeit demokratischer Politik« (157).

Vor dem Hintergrund dieser Krisendiagnose formuliert Selk eine konsequente Kritik der drei zur Zeit einflussreichsten demokratietheoretischen Ansätze: der radikalen Demokratietheorie, wie sie insbesondere von Chantal Mouffe vertreten wird; der deliberativen Demokratietheorie, für die in der Bundesrepublik Jürgen Habermas steht; und schließlich der liberalen Demokratietheorie eines Robert A. Dahl oder Joseph A. Schumpeter. Dieses Kapitel dürfte vor allem den Freunden theoretischer Erörterungen Vergnügen bereiten. Im vierten Schritt wendet sich Selk verschiedenen Strategien der »Demokratievergewisserung« zu, deren Ziel er darin sieht, die angesichts des »soziopolitischen Wandels aufkommenden Zweifel am Fortschrittsprozess und an dem mit ihm verknüpften Demokratiemodell zu akkommodieren« und auf diesem Wege »die Fortschrittstauglichkeit der Demokratie auch im Kontext einer Krisenerfahrung plausibel erscheinen zu lassen« (256–257).

Im Epilog zieht Selk ein düsteres Fazit: die »westlich-liberalen Regime« steckten »gemeinsam mit der akademischen Demokratietheorie in einem Dilemma«, und bislang stünden »keine alternativen Legitimationsideen zur Verfügung«, die »mit der Strahlkraft der demokratischen Idee gleichziehen könnten« (292). Die »Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie« seien »in Auflösung begriffen« (319).

Selks Buch bietet keine leichte Kost. Mitunter neigt er zu gedrechselten Formulierungen – »partizipative Aristokratisierung« (145), »agonaler Normativismus« (277), um nur zwei Beispiele zu nennen – als wolle er die von ihm konstatierte »Kognitionsasymmetrie« – also das höchst ungleiche Niveau »politischer Aufgeklärt- und Informiertheit« (53) – zusätzlich befeuern. Aber die Lektüre lohnt unbedingt. Denn im Unterschied zu vielen anderen aktuellen Analysen gibt er sich nicht der bequemen Hoffnung hin, es werde schon irgendwie gutgehen mit der Demokratie. Er benennt die Defizite, kann allerdings keine Alternativen anbieten. Ein hochaktuelles, anregendes und im positiven Sinn streitlustiges Buch, zumal vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politischen Entwicklungen in der Welt.

1 Vgl. die Rezensionen in Francia Recensio DOI: 10.11588/frrec.2019.3.66592, 10.11588/frrec.2021.4.85136.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Craig Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar, Charles Taylor, Zerfallserscheinungen der Demokratie, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2024, 459 S., ISBN 978-3-518-30019-0, EUR 29,00.; Veith Selk, Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin (Suhrkamp Verlag) 2023, 328 S., ISBN 978-3-518-30017-6, EUR 23,00. , in: Francia-Recensio 2024/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108223