Eine Revolution in der Moderne versteht sich dadurch, dass sie einen Bruch mit der Vergangenheit darstellt, und zwar einen, der über einen bloßen Wechsel der politischen Herrschaft hinausgeht. Ihrem Anspruch nach schafft sie eine ganz neue Zukunft. Gleichzeitig aber ist es essenziell für ihre Legitimität, dass sie nicht als historisch zufällig erscheint, sondern sich als eine logische Folge aus dieser Vergangenheit konstruiert. Daraus erwächst ein Widerspruch, wenn es um die Indienstnahme der vorrevolutionären Vergangenheit für die Legitimität der Revolution geht: Hat nun eine ganz neue Zeit begonnen, oder ist die neue Zeit in der alten bereits angelegt und steht insofern in Kontinuität zu derselben? Die Geschichte ist von zentraler Bedeutung für die Selbstkonstruktion der Revolution, und Revolutionen ziehen einen neuen Blick auf die Geschichte nach sich: Das ist mehr oder weniger die Ausgangshypothese dieses Bandes, der sich auf die große Französische Revolution, ihre Vor- und Nachgeschichte konzentriert und von da aus auf andere Bewegungen und Länder blickt, wie die deutsche Sozialdemokratie, die erste brasilianische Republik unter Getulio Vargas, die Kubanische Revolution und natürlich den Bolschewismus. Manches an dieser Auswahl erscheint ein wenig zufällig. Dabei ordnen die Herausgeberin und der Herausgeber den Stoff in vier Abschnitte, die nicht immer trennscharf funktionieren: (1) die historische Rechtfertigung der Revolution, (2) die Selbsteinordnung in eine historische Kette vergangener Revolutionen, (3) die Neuinterpretation der revolutionären Geschichte als politischem Anspruch auf die Zukunft und (4) einzelne Revolutionsgeschichten, die als rückwärts gerichtete Prophetien präsentiert werden. Dieser vierte Teil scheint nicht ganz zum Konzept des Bandes zu passen, denn seine Beiträge sind meist mehr oder weniger konventionell historiografiegeschichtlich orientiert, präsentieren einzelne Autoren und einzelne Werke: Dabei geht es weniger um eine historische Legitimation der Revolution als um einen historischen Blick auf Revolutionen im Dienste aktueller politischer Konstellationen, wie bei dem von Vincent Robert untersuchten glühenden Bonapartisten Adolphe Granier de Cassagnac, der populärhistorische Darstellungen in rein propagandistischem Interesse schrieb. Ob man das mit der historischen Parallelisierung der Französischen und der Russischen Revolution vergleichen kann? Sie mögen insofern passend erscheinen, als die meisten der Beiträge sich mit historischen Darstellungen beschäftigen.

Die Ausgangsthese scheint vor diesem Hintergrund nicht übermäßig scharf. In der Tat ist, wie die Herausgeber zugeben, keine eindeutige Linie der Indienstnahme und der Neuinterpretation der Geschichte zu identifizieren, weshalb sie in der Einleitung zugestehen, gewisse Vorentscheidungen getroffen zu haben; ein besonderes Interesse gibt es für die Sprache, in der die Revolution (und ihre Vorgeschichte) beschrieben, gerechtfertigt oder delegitimiert wird. In dieser Weise ist der Band ein Beitrag zur intellectual history der Revolution. Beobachtet werden Momente von Aneignung, Reaktualisierung, Imitation und historischer Rechtfertigung. Im Fokus stehen die Konstruktion historischer Parallelen (wie zwischen Jakobinern und Bolschewiki) durch die Akteure wie auch die Selbsthistorisierung, die teilweise noch in actu passiert, oder ex post die Erinnerungspolitik. Die zeittheoretischen Überlegungen Reinhart Kosellecks spielen in vielen Beiträgen eine Rolle, etwa die Kategorie der »Vergangenen Zukunft«; die Dualität von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont kommt immer wieder zur Sprache.

Es sind tatsächlich vor allem die sprachlichen Beobachtungen, die den Band interessant machen: Frédéric Bidouze untersucht die changierenden Schwarz-Weiß-Zuschreibungen im unmittelbaren Vorfeld der Französischen Revolution: Zwischen dem »despotisme des rois« und dem »despotisme des parlements« werden verschiedene, widersprüchliche relectures verhandelt. »Anarchie« als Schreckgespenst, das man der Republik anhängt, stellte am Anfang der Revolution eine Herausforderung dar, sprach man doch der Monarchie zu, die feudale Anarchie des frühen und hohen Mittelalters gezähmt zu haben. In dem Maße aber, in dem der Monarchie der Vorwurf des Despotismus gemacht wurde, gewann »Anarchie«, wie Marc Deleplace ausführt, als eine Art protoliberaler Gesellschaftsselbstorganisation an Gewicht, war doch hier die Herrschaft eines einzigen Despoten unmöglich. Anna Karla beschreibt die publizierten Revolutionsmemoiren, die es seit dem Thermidor gab, die aber seit etwa 1820 eine Konjunktur erlebten, als eine Form der Reaktualisierung und gleichzeitig der Historisierung. Die Revolution zu erzählen hält sie lebendig. Insofern sind diese Erinnerungen weit mehr als eine Erzählung der Vergangenheit. Vielmehr sind sie aktuelle politische Interventionen, die namentlich die Bewertung der Revolution als historisches Ereignis beeinflussen. In die gleiche Kerbe stößt Francesco Dendena, der die französische, massiv veränderte Neuherausgabe der 1688/89 erstmals erschienenen Memoiren des Cromwell-Generals Edmund Ludlow im Jahre 1794 als aktuellen Beitrag zur revolutionären Debatte in Frankreich während der Terreur untersucht.

Aber wie viel davon wurde von den Vielen rezipiert und genutzt? Waren diese theoretischen und historischen Texte nicht allein eine Sache der Intellektuellen? Jean-Numa Ducange geht dieser Frage anhand eines seinerzeit vieldiskutierten Themas nach: Wie viel wussten die gewöhnlichen Sozialdemokraten des späten 19. Jahrhunderts von den theoretischen und historischen Entwürfen der Marx, Engels, Bernstein, Kautsky? Gegen die ältere These, dass beim Fußvolk wenig marxistische Theorie angekommen sei, verweist Ducange auf die Vulgata-Kultur der populären Darstellungen von Geschichte und Klassentheorie, die nicht nur als Bücher gelesen wurden, sondern auch ihren Eingang in Broschüren und Zeitungsartikel fand und in den SPD-Bildungsinstitutionen gelehrt wurde. Sie präsentierten die Geschichte – vor allem der Französischen Revolution – als ein Lernexempel, keines indessen, das man blind nachahmen wollte. In Alexandre Tchoudinovs Analyse von Nikolai Loukines historischer Parallelisierung zwischen jakobinischer Revolution und stalinistischer Kollektivierung erscheint es jedoch gerade umgekehrt: Man möchte auf einen historischen Vorläufer verweisen, um die eigene Politik zu rechtfertigen, und was nicht passt, wird dabei passend gemacht. Die größeren französischen Bauern werden zu Vorläufern der russischen Kulaken (mitsamt der antirevolutionären Haltung), die Kollektivierungsmaßnahmen finden eine direkte Parallele in Maßnahmen der französischen Revolutionsregierung. Allzuviel hat Loukine sich nicht um die Fakten geschert; wenn sie nicht zur Interpretation passten: umso schlimmer für die Fakten.

Insgesamt handelt es sich also um durchaus unterschiedliche Zugriffe zum Verhältnis von Revolution und Geschichte. Fast immer aber präsentiert sich die Geschichte (oder vielleicht: die Vergangenheit?) als ein Arsenal, mit dem aktuelle politische Ereignisse und Handlungen gerechtfertigt werden sollten. So neu auch Revolutionen alles machen: Sie müssen sich als eine Fortsetzung verstehen, die relectures richten die Geschichte auf ein neues Legitimationsziel aus. Das zu zeigen, darin liegt bei aller Disparatheit, die mitunter arbiträr wirkt, ein Verdienst des Bandes.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Thomas Mergel, Rezension von/compte rendu de: Sylvie Aprile, Hervé Leuwers (Hg.), Révolutions et relectures du passé. XVIIIe–XXe siècle, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2023, 352 p. (Histoire et civilisations), ISBN 978-2-7574-3879-4, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108303