Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber bis zur Erfindung des Telegrafen in den 1830er-Jahren bestand die einzige Möglichkeit, mit jemanden über eine räumliche Distanz zu kommunizieren, darin, dass man ihm einen Brief schickte. Im Laufe der Jahrhunderte erfolgte ein stetes Wachstum des Briefverkehrs, dank einer langsam fortschreitenden Alphabetisierung und dank des zunehmend zur Verfügung stehenden Beschreibmaterials, des Papiers. Die Frühe Neuzeit ist somit eine Epoche des Briefes in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen, die vom wenige Zeilen umfassenden Billet bis zur dutzende Seiten umfassenden Depesche eines Gesandten reichen.
Briefe schreiben war das Eine, aber wie konnte man garantieren, dass darin mitgeteilte auch nur beim Empfänger, bei der Empfängerin ankam? Eine Sorge, die wahrscheinlich so alt ist wie das Briefeschreiben, und nicht nur in der Frühen Neuzeit umso berechtigter, wenn man an das rudimentäre Postwesen denkt. Seit Anbeginn wurden Korrespondenzen also verschlüsselt, überwacht und zensiert und zugleich daran gearbeitet, verborgenes sichtbar zu machen. Im 18. Jahrhundert zählten diese Praktiken zum Alltag des Korrespondierens. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen dieser Problematik aus den verschiedensten Perspektiven nach und präsentieren »toute une panoplie d’activités, de pratiques et de postures épistolaires méconnues et peu documentées« (XIX).
Denkt man an Briefüberwachung in der Frühen Neuzeit, kommen einem sofort die »Schwarzen Kabinette« in den Sinn, in denen mit Vorliebe, aber nicht nur, Diplomatenpost geöffnet und gelesen wurde. Um dieser Gefahr zu entgehen, bediente man sich bereits früh des Chiffrierens, mittels Zeichen- und Zahlencodes, dessen Praxis in der französischen Diplomatie Jörg Ulbert für das 18. Jahrhundert skizziert. Beobachten kann man eine Rationalisierung und Professionalisierung im Umgang mit den Chiffren – sichtbar etwa in der Formulierung von Regeln für das Chiffrieren, die die Gesandten erhielten. Im Alltag des Gesandten stand dem jedoch eine nicht zu übersehende Nachlässigkeit gegenüber: Oftmals mangelt es schlicht an Zeit und Ressourcen, um lange Depeschen vollständig zu verschlüsseln. Ist die Praxis in den Außenministerien mittlerweile recht gut erforscht, fehlen weitgehend systematische Untersuchungen über Arbeit der »Schwarzen Kabinette«.
Kelsey Rubin-Detlevs Beitrag schließt daran an, jedoch aus einer anderen Perspektive. Sie zeigt, wie Katharina II. systematisch, im Wissen darum, dass ihre europaweite Korrespondenz nicht nur von den Empfängern gelesen wurde, bewusst Nachrichten streute, um bestimmte Deutungen zu lancieren. Diese konnten, mussten aber nicht immer Falschinformationen sein. Wissend, dass ihre Korrespondenz mit Voltaire gelesen wurde, nutzte sie dies, um sich über die in ihren Augen russophobe Politik des Herzogs von Choiseul zu beschweren.
Auch Melchior Grimm, der mit zahlreichen gekrönten Häuptern eine exklusive Korrespondenz führte, gehörte zu den Empfängern der lancierten Nachrichten durch Katharina. Mélinda Caron untersucht, wie geheim seine Korrespondenz war bzw. wie er es schaffte, sowohl Empfänger als auch Inhalte geheim zu halten – etwa durch ein ausgeklügelte Kuriersystem. Ann Marie Hansen zeichnet anhand der Korrespondenz zwischen Pierre Des Maizeaux in London und seinen Verlegern in Rotterdam nach, wie ersterer nach und nach aus der Herausgeberschaft der ersten Edition der Briefe Pierre Bayles herausgedrängt wurde, obwohl er den Anstoß zu diesem Vorhaben gegeben hatte.
Weitere Aufsätze blicken aus der Perspektive des Überwachens auf Korrespondenzen. Dorothy P. Arthur zeigt anhand von Polizeiakten im Paris der 1750er-Jahre, wie drei Autorinnen überwacht wurden. In den Berichten der Spitzel und den Notizen des »inspecteur de la librairie«, Joseph d’Hémery (1722–1804) entfaltet sich ein breites Panorama aus Klatsch und Halbwahrheiten, aber auch von Netzwerken, in denen sich die Autorinnen Françoise de Graffigny (1695–1758), Anne-Maire de Fauquze (1720–1804) und Charlotte Reynier (1714–1784), genannt Madame Curé, und später Madame Bourette, bewegten. Aus der Überwachung und den Berichten, die an Malesherbes, dem »directeur de la librairie«, weitergeleitet wurden, entfalte sich so ein eindrucksvoller Blick auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Schriftstellerinnen.
Wie geht man also damit um, wenn man schon beim Schreiben weiß, dass die eigenen Briefe, noch bevor sie auf die Post gehen, gelesen und zensiert werden? Sophie Rothé untersucht dies am Beispiel des Marquis de Sade, der rund 30 Jahre seines Lebens in verschiedenen Gefängnissen und Anstalten verbracht hat. Sade bediente sich verschiedener Methoden der Dissimulation, der Geheimschriften und der Verschlüsselung, um zumindest einen kleinen Grad der Intimität zu wahren. Das Briefeschreiben aus dem Gefängnis heraus, hatte, so Rothé, für Sade den Charakter einer »activité libératrice« (115).
Suppliken, vereinfacht gesagt Bittschriften, sind ein ganz besondere Gattung von »Briefen«, der sich die Forschung schon seit längerem widmet. Myriam Deniel-Ternant untersucht, wie Priester, die beim Verstoß gegen das Zölibat in flagranti (und dies nicht nur einmal) erwischt wurden, versuchten, in ihren Bittschriften an die Polizei, weniger ihre Vergehen zu leugnen, als vielmehr verhindern wollten, dass diese in der Öffentlichkeit bekannt wurden und damit einen Skandal auslösten. Dabei bedienten sie sich einer ausgewählten Rhetorik, um die »Untersuchungsrichter« zu überzeugen, sei es die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen, sei es eventuelle Beweise verschwinden zu lassen. Nicht immer waren ihre Bitten von Erfolg gekrönt.
Martina Chumova schließt den Band mit dem Blick in eine medizinische Korrespondenz in Nürnberg am Ende des 18. Jahrhunderts, in der ein Patient einem Arzt, hoffend auf dessen Diskretion, seine sexuellen Nöte schildert und Erfolge und Misserfolge der Therapie dokumentiert.
Mit Secrets et surveillance épistolaire liegt ein rundum gelungener Band vor, der mit seinen Fallstudien eindrucksvoll das Potential der verschiedensten Formen brieflicher Kommunikation demonstriert und zugleich Werbung dafür macht, sich in diese (nicht nur) für die Frühe Neuzeit reichlich vorhandenen Quellen zu vertiefen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sven Externbrink, Rezension von/compte rendu de: Sébastien Drouin, Sébastien Côté, Secrets et surveillance épistolaires dans l’Europe du dix-huitième siècle, Liverpool (Liverpool University Press) 2023, 208 p. (Oxford University Studies in the Enlightenment, 12), ISBN 978-1-8020-7877-0, GBP 75,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108310