Lässt man das Vorwort von Denis Crouzet einmal außer Betracht, dann ist bereits am Anfang des Buchs Marseille malade de la peste das Ende mit Händen zu greifen. Mit Blick auf den 19. September 1720 ist hier nämlich gleich in den ersten Zeilen von einem »spectacle d’horreur insoutenable« die Rede, einem »théâtre macabre«, das sich an jenem Tag Antoine Deidier dargeboten habe, als er in der Stadt am Mittelmeer eintraf. Nicht weniger als eine »immense hécatombe« habe der vom Regenten entsandte Arzt damals nämlich erblickt, nachdem er Marseille aus nordöstlicher Richtung kommend betreten hatte (19). Und eine ganz ähnliche Szenerie hatte seinerzeit offenkundig auch ein anderer Vertreter der Krone vor Augen. Denn Nicolas Pichatty de Croislainte habe in jenem September 1720 in der Hafenstadt den gleichen »univers de souffrance et de mort collective« beobachtet wie Antoine Deidier. Die Ursache: Während der Sommermonate sei Marseille von der Pest überschwemmt und in ein »véritable mouroir« verwandelt worden (20).
Zwar haben Pichatty de Croislainte und Deidier eindrückliche Schreiben und Schriften hinterlassen, die vom Leben und Sterben bei der »Pest von Marseille« zeugen. Gleichwohl sind sie nicht die Autoren der eben wörtlich wiedergegebenen Formulierungen, die von der Epidemie von 1720–22 ein so dramatisch-dunkles Bild zeichnen. Diese Formulierungen stammen vielmehr aus der Feder von Frédéric Jacquin. Er ist 2005 mit einer auf einer entsprechenden Dissertation beruhenden Monografie über Vergiftungen im Ancien Régime des 18. Jahrhunderts hervorgetreten.1 Erscheinungsjahr und Themenstellung seiner aktuellen Veröffentlichung könnten nun dazu verleiten, in derselben eine Art Epilog zu dem beträchtlichen Aufwuchs an Büchern und Aufsätzen zu sehen, die in jüngster Zeit in Zusammenhang mit der 300. Wiederkehr der »Pest von Marseille« erschienen sind. Doch ist der Band, um den es hier geht, zu bedeutend, als dass er sich als verspäteter Nachklapp einer jubiläumsbedingten publizistischen Konjunktur abtun ließe. Jacquin macht darin nämlich zwei archivalisch überlieferte Handschriften zugänglich, die bisher teilweise noch nicht ediert worden sind. Dabei handelt es sich zum einen um das Journal historique de ce qui s’est passé dans la ville de Marseille et son terroir à l’occasion de la peste depuis le mois de mai 1720 jusqu’en 1723 von Paul Giraud (65–282)2 und zum anderen um die Relation de la peste arrivée à Marseille l’an 1720 écrite le 20 octobre 1754 von Pierre-Honoré Roux (297–352).
Die beiden Texte gehören in eine Reihe mit anderen chronikalischen Zeugnissen, die zur »Pest von Marseille« vorliegen und ihren Beitrag dazu leisten, dass diese Epidemie die am besten dokumentierte in der Geschichte des Ancien Régime ist. Ein herausragendes Beispiel für diese Art der Überlieferung ist der bereits erwähnte Augenzeugenbericht von Pichatty de Croislainte. Dieser verdeutlicht zugleich aber auch, warum die vorzügliche Quellenlage, die hinsichtlich des Seuchenzugs von 1720–22 vorherrscht, gewissermaßen Fluch und Segen zugleich ist. Denn Pichatty de Croislainte hat das damalige Epidemiegeschehen nicht nur aus nächster Nähe miterlebt. Er war als procureur du roi de la police auch ganz unmittelbar in die damalige Epidemiebewältigung involviert. Es ist gerade diese räumliche, zeitliche und eben auch persönliche Nähe zum Ereignis, die die Auswertung der Quelle zu einer besonderen Herausforderung macht.
Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Relation de la peste von Pierre-Honoré Roux, einem Kaufmann, der gemeinsam mit seinem Bruder von Marseille aus in globalen Maßstab Handel trieb. Roux stieg in der Hafenstadt in den Jahrzehnten nach 1720–22 zu den höchsten kommunalen Ämtern auf. Und ebenfalls in den Jahrzehnten nach der »Pest von Marseille« entstand auch sein Bericht über das dortige Seuchengeschehen und die dortige Seuchenbewältigung. Dass Roux darin kein schlechtes Wort über das Wirken seiner Amtsvorgänger von 1720–22 verliert, kann angesichts dieser Parallelität (wenn nicht gar Synchronität) der Entwicklungen kaum verwundern. Die hieraus erwachsenden Zweifel an der Zuverlässigkeit der Relation de la peste erhalten weitere Nahrung bei einem Blick auf die Überlieferungsgeschichte des Manuskripts, auf dem die Edition von Jacquin beruht. Es handelt sich bei dieser Handschrift nämlich um die von einem Sohn von Roux angefertigte »copie« eines verschollenen Originals. Dies hat jener Sohn auf der ersten Seite des Manuskripts ebenso vermerkt wie den Umstand (nicht die Tatsache!), dass sein Vater »témoin oculaire« der Epidemie in Marseille gewesen sei (292). Mithin wirft die Relation de la peste in besonderer Weise ein Problem der Augenzeugen-, Zeitzeugen- und letztlich auch der Autorschaft auf. Mit ihm muss sich auseinandersetzen, wer den Bericht von Roux historiographisch fruchtbar machen will.
Ein Problem der Intertextualität stellt sich derweil im Umgang mit dem Journal historique von Paul Giraud, einem ranghohen Trinitarierpater, der in den welt- und ordensgeistlichen Kreisen von Marseille offenbar gut vernetzt war. In seiner ausführlichen Darstellung kommt Giraud wiederholt auf Pichatty de Croislainte zu sprechen, auf dessen bereits im Dezember 1720 veröffentlichte Schrift er für die Redaktion seines Manuskripts explizit zurückgriff. Dabei tendiert er, ähnlich wie das auch Pichatty de Croislainte tut, im Journal historique dazu, Sachverhalte zu überzeichnen und Topoi zu bemühen, wie man sie bereits zeitgenössisch in anderen loimographischen Texten nachlesen konnte. Hierbei handelte es sich möglicherweise um zwei Seiten einer und derselben Medaille: Während die Übertreibungen von dem psychischen Schock zeugen könnten, den die Bilder massenhaften Dahinsiechens und Dahinscheidens bei Giraud auslösten, könnten die Topoi dem Zweck gedient haben, diesen Schock in bekannte narrative Strukturen einzuordnen und auf diesem Wege erfahr- und handhabbar zu machen. In den Anekdoten, die sich im Journal historique finden, könnten sich beide Aspekte gewissermaßen verdichten. Jacquin weist auf die große Anzahl dieser Anekdoten (er spricht von »micro-récits«, 50) ebenso hin, wie er diese Art schriftsprachlicher Erbauungsrhetorik durchaus plausibel in die Nähe der Predigttätigkeit rückt, die Giraud vertraut gewesen sein müsste. Er bemüht sich zudem auch hier um eine möglichst präzise Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte und gelangt so zu dem Schluss, dass das Journal historique zwischen 1738 und 1740 entstanden sein dürfte. Mittelbar wirft mithin also auch diese Schrift das Problem der Zeitzeugenschaft auf.
In der Einleitung, die er der eigentlichen Edition vorausschickt, weist Jacquin auf all diese inhaltlichen und methodischen Implikationen der von ihm erstmals vollständig publizierten Textdokumente zwar durchaus hin. Indes vermeidet er es, aus den entsprechenden Ausführungen die Konsequenzen zu ziehen, die hier im Lichte weiterer Forschung mit Blick auf die Frage(n) der Augenzeugen-, Zeitzeugen- und Autorschaft angedeutet worden sind. Womöglich hätte Jacquin hierfür mehr kritischer Distanz zu den Diskursen bedurft, die er in seiner »Présentation« zitiert und im Anschluss ediert hat. Denn wenn er die oben wörtlich wiedergegebenen dramatisch-dunklen Formulierungen wählt, um seinerseits die gravierenden Folgen der Epidemie von 1720–22 namhaft zu machen, dann tut Jacquin dies in erster Linie, indem er Pichatty de Croislainte, Deidier sowie indirekt auch Giraud und nicht zuletzt Roux paraphrasiert. In gewisser Weise schreibt er damit (im eigentlichen wie übertragenen Sinne des Wortes) eine Tradition fort, die mit Pichatty de Croislainte und Deidier bereits während der »Pest von Marseille« begonnen und im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts dann mit Giraud und Roux eine Fortsetzung gefunden hat. Bereits damals verschmolzen Ereignis und Erzählung nämlich zu einer, wie Régis Bertrand es ausgedrückt hat, »histoire immédiate«. Deren andauernde Vergegenwärtigung und Stilisierung mit den Mitteln der Literatur und Kunst formten hieraus ebenfalls bereits seit dem 18. Jahrhundert ein »imaginaire«, an dessen Zustandekommen nolens volens auch die Geschichtsschreibung Anteil hatte – und, wie die Einleitung von Jacquin zeigt, immer noch hat. Jedenfalls bildet die Epidemie von 1720–22 mehr denn je eine »kyste historiographique«.3 Umso wichtiger wäre es freilich gewesen, dass auch die jüngste Forschung Eingang in die Einleitung von Jacquin gefunden hätte. Stellvertretend sei hier lediglich die Überblicksdarstellung von Gilbert Buti genannt, die bis auf Weiteres das maßgebliche Standardwerk zur »Pest von Marseille« darstellen wird.4 Dass weder dieser noch andere einschlägige Titel, die im näheren und weiteren Umfeld der 300. Wiederkehr der Epidemie von 1720–22 erschienen sind, von Jacquin berücksichtigt werden, lässt den Autor, aber auch das Lektorat seines Verlags in keinem besonders günstigen Licht erscheinen.
Ganz anders verhält es sich sodann mit der Edition selbst, über die Jacquin schreibt: »La transcription qui est proposée ici s’est voulue la plus fidèle possible aux manuscrits originaux. Nous avons respecté la forme que leurs auteurs leurs avaient donnée. Aucune modification n’a été faite« (56). Jacquin verzichtet darauf, der Transkription einen allzu umfangreichen Fußnotenapparat beizugeben. Die meisten der betont kurz gehaltenen Anmerkungen sind philologischer Natur, insofern sie sich auf gewisse Wörter oder Wortgruppen aus den Handschriften beziehen und gegebenenfalls erläutern, weshalb in der Transkription eine bestimmte Form der Wiedergabe gewählt wurde. Zudem setzt Jacquin gelegentlich auch Fußnoten, um schwer verständliche Wörter zu erklären oder ergänzende Sachinformationen hinzuzufügen.
Sowohl ihrem Umfang als auch ihrem Inhalt nach handelt es sich bei den beiden transkribierten Handschriften um bedeutende Dokumente. Ihre Edition wird – so viel kann schon einmal vorweggenommen werden – die wissenschaftliche Beschäftigung mit der »Pest von Marseille« zwar nicht auf eine neue Grundlage stellen. Schon allein aufgrund der schieren Informationsfülle, die die beiden Quellen bereithalten, werden letztere den derzeitigen Forschungsstand jedoch in manchem Punkt ergänzen. Dies gilt insbesondere für die Fragen der Seuchenbewältigung, denen das Journal historique im geistlichen und die Relation de la peste im weltlichen Bereich jeweils besondere Aufmerksamkeit schenken. Mit dem späten Seuchengeschehen der Jahre 1722–23 identifiziert Jacquin darüber hinaus ein weiteres Themenfeld, zu dem insbesondere der Bericht von Roux einen wertvollen Beitrag leisten kann. Das besondere Verdienst von Jacquin besteht allerdings darin, der Forschung zur »Pest von Marseille« mit enormem Aufwand und außerordentlicher Präzision weitere Quellen zugänglich gemacht zu haben. Diese erlauben es, die bereits in hohem Maße spezialisierte und ausdifferenzierte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Seuchenzug von 1720–22 weiter zu vertiefen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thorsten Busch, Rezension von/compte rendu de: Frédéric Jacquin, Marseille malade de la peste (1720–1723), Paris (Presses universitaires de France) 2023, 288 p., ISBN 978-2-13-084725-0, EUR 27,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108315