Was gehört zur präzisen Bezeichnung eines historischen Forschungsgegenstands? Angaben über Raum, Zeitspanne, Thema und Methode. Der Titel des Sammelbands bedarf daher der Ergänzung. Der Band basiert auf einer Abschlusstagung von 2021, die sich als »conclusion of a multi-year inderdisciplinary collaborative research project on Lutheranism and societal development in Denmark« versteht (»Acknowledments«, 9). Die Beiträge beziehen sich zum einen allein auf die lutherische Reformation und schließen zum anderen Schweden und Schleswig-Holstein ein, wobei auch pauschal von Europa die Rede ist. Ziel der fachlichen Kooperationen »was to explore how religion was lived out in everyday life in the aftermath of the Reformation, and how we methodically can trace changes in material culture, emotions, social structures, and cultures that might be linked to the Reformation and the development of confessional cultures« (10). Im Sinne des Konzepts der »long reformation« soll dabei die Brücke vom 16. Jahrhundert bis in die Moderne geschlagen werden. Konzeptionell verweisen die Herausgeberin und der Herausgeber in ihrer Einführung mit den Stichworten Konfessionalisierung, Volksglauben, Sozialdisziplinierung, Konfessionskultur und gelebte Reformation auf die für sie zentralen Forschungsparadigmen der Reformationsforschung der Jahrtausendwende.

Der Band ist in drei Sektionen eingeteilt. Unter »Religious Formation of Everyday Life« untersucht Lee Palmer Wandel mittelalterlicher Kalender, insbesondere Messbücher und deren Kommentierung durch den Theologen William Durand. Allein auf der Grundlage des Arguments, dass die Reformation die katholische liturgische Rhythmisierung des Alltags aufgehoben habe, gelangt sie für den Alltag im protestantischen Europa etwas rätselhaft zum Schluss: »Time … was itself no longer a locus of divine presence … Divine presence and human history had been realigned« (49).

Jette Bendixen Rønkilde behandelt Erik Pontoppidans 1737 gedruckten Kommentar von Luthers Kleinem Katechismus. Ihr geht es um »the normative dimension of lived religion« (58). Anhand der Analyse von Potoppidans Darstellung von Taufe, Abendmahl und Sündenverständnis, charakterisiert sie den dänischen und in Norwegen verbreiteten Kommentar als einen Leitfaden, der die Gläubigen zur Bewältigung des Alltags angehalten und darüber orientiert habe, wie man ein guter Untertan sei.

Päivi Räisänen-Schröder widmet sich den europäischen Täufern. Ihre Charakterisierung der Täuferbewegung wird Forschenden geläufig sein. Der Hinweis, dass insbesondere das täuferische Kirchenliedgut dafür geeignet sei, das wechselseitige Verhältnis von Theologie und Alltagsbewältigung zu untersuchen, knüpft faktisch an Überlegungen des acoustic turn an. Dass sich der »lived religion approach« deswegen lohne, weil er die Alltagsgeschichte um die religiöse Dimension bereichere, das Verhältnis formeller und informeller Formen der Religionsausübung betrachte, die Täufer in die Geschichte der Christenheit integriere und interdisziplinär aufgestellt sei, ist ein Ergebnis, das weder empirisch noch konzeptionell überrascht.

J. Koryl will mit seiner »aural history« der Tatsache gerecht werden, dass auch in der Reformationszeit sprachliche Äußerungen nicht rein als visuelle, gedruckte Daten sondern als sinnliche Phänomene wahrgenommen wurden: »… aural history aims both to describe the individual and collective impressions left by the sound of language on its hearers, but also to measure the influence exercised by orality upon the systems of thought and social phenomena within literate communities« (93). An theologischen Schlüsseltexten wie Melanchthons Loci communes, Luthers Darlegungen zur deutschen Messe oder dem evangelischen Kirchenlied thematisiert er, wie die sprachliche Gestaltung der Texte den sinnlichen Erwartungen der Adressierten entgegenzukommen versuchte. So eingehend die Auseinandersetzung mit den derzeitigen Varianten der Sinnesgeschichte ist, so gut der sinnliche Charakter von Sprache konzeptionell begründet ist und so reizvoll die Hinweise auf das Potential der vielfältigen schriftlichen Quellengattungen sind, so ist doch Koryls argumentativer Sprung von den sprachlichen Merkmalen der angeführten Texte zu dem Glauben der Lutheranerinnen und Lutheraner gewagt. Hier lohnte es sich, die Frage der Rezeption der Texte genauer zu untersuchen.

Aus kunsthistorischer Perspektive betrachtet Bonnie Noble Werke von Dürer, Jan van Eyck, Hans Baldung Grien und Lucas Cranach dem Älteren. Nicht in der Kunstgeschichte bewandert, staune ich, was sie in deren Ölbildern zu erkennen vermag. Ob das Argument überzeugt, die Werke belegten einem epistemologischen Wandel vom tiefen Glauben der vorreformatorischen zum Skeptizismus der reformatorischen Zeit, sei anderen überlassen.

In der zweiten Sektion »Reformation and the Household« soll der Überschrift entsprechend das frühneuzeitliche »Haus« im Fokus stehen. Kirsi Stjerna hebt die Rolle der Ehefrauen der ersten und zweiten Generation der Reformatoren für die Verbreitung der Reformation hervor. Wer Stjernas Publikationen von 2009 und 2022 kennt, wird hier vieles wiederholt finden. Mit Verweis auf Reformatorinnen in England, Italien, der Schweiz, dem Alten Reich hebt sie hervor, dass Frauen nicht nur Kinder religiös unterwiesen, sondern auch selbst religiöse Texte verfasst und diese zu verbreiten gewusst hätten. Ihnen sei als aktive Trägerinnen der Reformation ein angemessener Platz in der Geschichtsschreibung zuzuweisen, eine an die »herstory« erinnernde Mahnung, die aber immer noch nicht überholt ist.

Welche religiösen Unterweisungen auf der Grundlage von Katechismen junge dänische Adlige 1580 bis 1660 auf ihrer Europatour erhalten sollten, untersucht Per Seesko-Tønnesen. Diese, so das empirische Ergebnis, zielten insbesondere auf die Erziehung zur respektvollen Anerkennung des »Hauses« als patriarchalisch strukturierte frühneuzeitliche Einheit.

Ideengeschichtlich werten Paolo Astorri und Lars Cyril Norgaard die Frühschriften des im Alten Reich und in Dänemark tätigen lutherischen Philosophen Henning Arnisaeus aus. Sie verfolgen dessen Verständnis der protestantischen familia als Abbild einer »Republik« im Kleinen, dem ein liebender Hausvater vorzustehen habe. Die Frage, was genau die Schriften des Arnisaeus mit gelebter Reformation zu tun haben, stellen und beantworten die Autoren nicht.

Buchstäblich nah am Leben bewegt sich hingegen Mette M. Ahlefeldt-Laurvig mit dem Thema »Churching«, dem ritualisierten ersten Gottesdienstbesuch nach der Entbindung. Sie verfolgt die Frage, ob die jungen Mütter infolge der Reformation »churching« nicht katholisch als Reinigungsritual, sondern als Danksagung für die überstandene Geburt verstanden. Anhand theologischer Traktate und weniger dänischer Selbstzeugnisse demonstriert sie, dass die werdenden Mütter ungeachtet der lutherischen Normen »churching« als Übergangsritus interpretierten, der sie vor Leid schützte und ihnen Heilung versprach.

Die Sektion »Negotiating Religion in Everyday Life« zielt auf die Implementierung der neuen religiösen Vorgaben im Alltagsleben der Gläubigen. Für Schweden argumentiert Martin Berntson, die Parlamentskonflikte und lokalen Aufstände insbesondere der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts seien als Aushandlungsprozesse zwischen Krone und Untertanen zu verstehen, Reformation sei nicht einfach durch den König eingeführt worden: »it can be argued that the practical implementation of the Reformation, in Sweden as in other places, was the result of negotiation« (264). Das Stichwort Implementation fällt, ohne die konzeptionellen Diskussionen um das Implementationsparadigma aufzunehmen.

Aleksandra Matczyńska widmet sich am Beispiel schlesischer Epitaphe der Frage, welche Rolle Frauen in der konfessionell geprägten Erinnerungskultur der Zeit von 1520 bis 1620 einnahmen. Sie stellt fest, dass Frauen die sakralen Kunstwerke deutlich seltener finanziert hätten, da diesen mit der lutherischen Reformation ihre religiöse Funktion genommen worden sei. Epitaphe seien nicht mehr im katholischen Sinn als in Stein gemeißelte Fürbitten für die Verstorbenen und als Zeugnis guter Werke verstanden, sondern vielmehr als Sinnbild geschwisterlicher Ermahnung zu einem gottgefälligen Leben betrachtet worden. Insofern leistet Matczyńska einen empirischen Beitrag zu einer gendergeschichtlich orientierten materiellen Geschichte der Reformation.

Mattias Sommer Bostrup richtet seinen Blick auf die friesische Insel Nordstrand, die zwar zum lutherischen Schleswig-Holstein gehörte, aber katholischen Immigranten erlaubte, Grundbesitz zu erwerben und ihren Glauben zu praktizieren. Wie die Konfessionen unter den landesherrlichen Ordnungen von 1652 miteinander lebten, inwiefern sie einander tolerierten, beantwortet Bostrup mittels eines von einem lutherischen Pfarrer 1698 hinterlassenen Manuskripts. Er will damit nachverfolgen »how living with toleration differed from regulating toleration« (289), um die Sicht »von oben« mit einer Sicht »von unten« zu ergänzen. Pfarrer Lorentzen mit einem »unten« gleichzusetzen, dürfte überzogen sein. Doch das Argument, die Abgrenzung vor den Andersgläubigen habe im Zusammenleben jeweils der konfessionellen Selbstidentifikation gedient, ist nachvollziehbar. Das konzeptionelle Resümee jedoch, »religious coexistence is best described by studying how it made people act and react, how it shaped and led them to articulate their identity, how it functioned as tactics« (306), erscheint angesichts der vielfältigen Forschungsdiskussionen, etwa um den Begriff der Praktiken, banal.

Sini Mikkola stellt dar, dass Luther Frauen durchaus ein Leben im Kloster zugestand, solange sie keine ewigen Gelübde ablegten und somit ihre Spiritualität aus freien Stücken im monastischen Kontext leben konnten. Die lutherische Reformation habe Frauen also nicht auf ein Eheleben im Dienste eines Haushalts eingeengt, wie Mikkola entlang von Lutherschriften, Antworten Luthers auf Anfragen von Nonnen sowie seiner Haltung im Streit um das Fraterhaus in Herford belegt. Sie trägt damit dazu bei, den Topos zu überwinden, Luther habe das Klosterleben grundsätzlich abgelehnt und allein das Eheleben als Ideal betrachtet.

Ein Namens- und Sachregister steht dankenswerterweise zur Verfügung. Wer schon einmal selbst ein Sachregister erstellt hat, weiß, wie anspruchsvoll die Aufgabe ist und wird daher leicht darüber hinwegsehen, dass man selbst gerne noch andere Lemmata aufgenommen gesehen hätte.

Der Band erhebt den Anspruch »exploratory« zu sein, neue Perspektiven – »both theoretical and methodical approaches« – zu eröffnen, indem er neue Forschungsfelder eröffne und die Vielfalt der Quellen diskutiere (24). Ich sehe nicht, dass dieser Anspruch befriedigend erfüllt wird. Zu oft schließen die Beiträge aus (durchaus bekannten) Quellensorten, die Normvorstellungen dokumentieren, auf Praktiken. Vielfach begnügen sich die Beiträge mit rein empirischen Ergebnissen oder enden in programmatischen Aufrufen, denen eine weiterführende konzeptionelle Diskussion fehlt. Die meisten Beiträge verzichten auf eine explizite Auseinandersetzung mit den in der Einführung erwähnten Forschungsparadigmen. Eine Entwicklung eigener konzeptioneller Vorschläge bleibt überwiegend aus. Gerade angesichts seines programmatischen Anspruchs hätte der Band wegen der Heterogenität der Themen davon profitieren können, wenn N. J. Koefed und B. K. Holm die konzeptionellen Erträge der Beiträge entweder zusammenfassend profiliert hätten oder die Beitragenden stärker dazu angehalten hätten, jene selbst zu formulieren. Auch das Verhältnis der Themen zueinander hätte erläutert werden müssen, um den Eindruck eher zufällig zusammengewürfelter Beiträge zu schwächen. Zurück bleibt für mich der Eindruck, es mit einem Band zu tun gehabt zu haben, der dem Druck geschuldet ist, unter dem insbesondere die jüngeren Kolleginnen und Kollegen stehen, Konferenzbeiträge unter marktgängigen Titeln zu publizieren. Aber immerhin konnte ich meinen Blick von Mittel- und Westeuropa nach Skandinavien erweitern. Das könnte es auch anderen in der Reformationsforschung wert sein.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Francisca Loetz, Rezension von/compte rendu de: Nina J. Koefoed, Bo Kristian Holm (ed.), Reformation and Everyday Life, Göttingen (V&R) 2023, 342 p., 15 col. fig.(Refo500 Academic Studies, 100), ISBN 978-3-5255-7355-6, DOI 10.13109/9783666573552, EUR 120,00., in: Francia-Recensio 2024/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108317