Während bei der Beschäftigung mit dem wirtschaftlichen Denken des 18. Jahrhunderts meist die Genese der Politischen Ökonomie dominiert, wählt Arnaud Orain in seinem neuesten, absolut lesenswerten Buch einen anderen Zugang. Er widmet sich alternativem, »verlorenem« ökonomischem Wissen der Vormoderne, das bei retrospektiver Suche nach den Ursprüngen heutiger ökonomischer Theorien in der Regel unterbelichtet bleibt. Statt der Physiokraten oder ihrer Gegenspieler geraten so Autoren in den Fokus, deren Nachdenken über wirtschaftliche Zusammenhänge eben nicht in die Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts mündete.
Erklärtes Ziel Orains ist es, »de désacraliser et de pluraliser l’objet ›science‹« (10–11), indem er auf kanonisierte Autoren ökonomischer Theorie und ihre grundlegenden Texte verzichtet und stattdessen alternative Ansätze in den Mittelpunkt rückt. Bei seiner Analyse geht er in zwei Schritten vor. Nach einer knappen, die anti-teleologische Stoßrichtung umreißenden Einleitung beginnt er seine Studie mit der science du commerce, die insbesondere vom Kreis um Vincent de Gournay betrieben worden sei (Kapitel I–III). Daran schließt er Überlegungen zur physique œconomique an, einer holistischen und wertegeleiteten Konzeption von Oekonomie, die den Menschen als Teil eines natürlichen Gleichgewichts betrachtet habe. Einen besonderen Fokus legt der Verfasser auf die Formulierung eines solchen Zugangs durch Carl von Linné und deren Weiterentwicklung durch französische Autoren (Kap. IV–VI). Beide Abschnitte durchzieht die These einer besonderen Praxisnähe der behandelten Autoren und ihrer Entwürfe und die damit zusammenhängende Frage nach den epistemologischen Grundlagen der Wissensproduktion. Dabei widmet sich Orain dezidiert solchen Akteuren, die die zeitgenössisch verhandelte Frage nach der Übertragbarkeit lokal gewonnener Erkenntnisse und ihrer Abstraktion zu allgemeingültigen Theorien negativ beantworteten.
Die science du commerce ist Orain zufolge mangels klar definierter Prinzipien eine schwierig einzuordnende Denkrichtung, die ebenso Elemente merkantilistischer Konzepte wie des später ausformulierten Liberalismus aufweise. Wesentliche Impulse seien von englischen Autoren ausgegangen, deren Texte in den Modi der Übersetzung, der Bearbeitung und der bricolage in die französischsprachige Debatte eingebracht worden seien. Überzeugend gelingen in diesem Zusammenhang Orains Ausführungen zur Vielstimmigkeit und Dialogizität der Texte, zu den verwendeten textuellen Strategien und zum spielerischen Umgang mit Textformen (z. B. conte économique). Die den Beiträgen dieser Denkrichtung gemeinsame Bevorzugung deskriptiver und vergleichender Beschreibungen sei von der lokalen Determiniertheit jeglichen Wissens ausgegangen. Die daraus resultierende Unmöglichkeit der Abstraktion in Theorien mit globalem Geltungsanspruch habe indes zu einem epistemologischen Dilemma geführt. Im Gegensatz zur Politischen Ökonomie sei die science du commerce daher konkret und fallbezogen und nicht auf verallgemeinerbare Theorieentwürfe ausgelegt gewesen.
Die Kapitel zur science œconomique beginnen mit einer ausführlichen Darstellung antiker Konzepte einer Oekonomie, insbesondere bei Xenophon und Aristoteles. Rezeptionsprozesse von Elementen dieses Denkens verfolgt Orain über Scholastik und Renaissance bis hin zum 17. und v. a. 18. Jahrhundert. Als zentrale Referenz der französischen Diskussion identifiziert er Linné und seine Konzeption einer physique œconomique. Verbreitet wurden diese Konzeption und die auf sie aufbauenden Wissensbestände in Periodika und Publikationen, wobei Orain die Bedeutung des Journal œconomique und seines langjährigen Redakteurs Claude Boudet hervorhebt. Die physique œconomique sei durch das Streben nach einem harmonischen Gleichgewicht charakterisiert gewesen, das den Menschen als Teil der Natur verstanden, ihm jedoch eine regulierende Rolle zugewiesen habe. Innerhalb dieses konzeptuellen Rahmens, dem ein geografischer bzw. klimatischer Determinismus zugrunde gelegen habe, mussten, wie Orain beschreibt, Versuche zur Akklimatisierung allochthoner (Nutz-)Pflanzen und zur Veränderung klimatischer und physischer Bedingungen durch Veränderung der Bodenbeschaffenheit diskursiv entsprechend eingebettet werden. Dabei habe stets den symbiotischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Arten eines lokalen Ökosystems besonderes Augenmerk gegolten. Ein Eingreifen des Menschen sei indes unter der Voraussetzung eines gestörten Gleichgewichts – beispielsweise infolge von Abholzungen, nicht ausreichenden Ernteerträgen durch Dürren oder bei der kolonialen Besiedelung und ökonomischen Nutzbarmachung neuer Territorien – als legitim erachtet worden, wenn es der Wiederherstellung bzw. der Verbesserung diente. Der »œconome-humain, régulateur suprême«, sei so zum »restaurateur de l’œconomie de la nature [...] au bénéfice de tous les vivants« (245) geworden. Die Unterschiede zu den Physiokraten, die die Natur einer Produktionslogik unterworfen und zwar ebenfalls auf die Vorstellung eines Gleichgewichts zurückgegriffen, dieses jedoch auf Waren- und Arbeitsmärkte bezogen hätten, kann Orain so eindrücklich aufzeigen.
In der »Conclusion« wagt sich Orain an einen Ausblick ins 21. Jahrhundert, das angesichts multipler Krisen durch wachsende Skepsis gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb gekennzeichnet sei. Als Lösungsansatz schlägt er die Rückkehr zu einem harmonischen Wirtschaftssystem Linné’scher Prägung vor, das den Menschen als Teil des Ökosystems konzipiert und statt der Ausbeutung natürlicher Ressourcen eine maßvolle Steuerung vorsieht. Dieser Teil ist anregend, mit seiner utopischen Stoßrichtung im Vergleich zu den fundierten historischen Analysen aber etwas weniger überzeugend.
Zum Abschluss seien zwei kleinere Kritikpunkte genannt: Zu nennen ist zum einen das Außerachtlassen der deutschsprachigen Forschung insbesondere zur sogenannten Ökonomischen Aufklärung (Marcus Popplow), die zahlreiche Anknüpfungspunkte zu wirtschaftlichen Reformdiskursen und Praktiken der Zirkulation von Wissen und Pflanzen geboten hätte. Nur eingeschränkt zu überzeugen vermag zum anderen der Versuch, der science œconomique zunehmend demokratische Züge zuzuschreiben (200). Diese These begründet Orain mit dem Argument, sie habe ökonomisches Wissen nicht in elitären Akademien verortet und dementsprechend während der gesellschaftlichen Umbrüche der Französischen Revolution breite Resonanz erfahren. Betont wird zudem die hohe Relevanz, die diese Denkschule praktischen Erfahrungen und dem Wissen nicht gelehrter bäuerlicher Akteure zugemessen habe. Dass die Diskussion alternativen ökonomischen Wissens tatsächlich so egalitär ablief – und es sich bei der Betonung des Praxisbezugs und der sozialen Inklusivität nicht vielmehr um topische Referenzen und Behauptungsstrategien gegenüber akademisch produziertem Wissen handelte – kann Orain an den diskutierten Beispielen nicht immer plausibel machen.
Dies ändert jedoch nichts daran, dass Orain mit seinem Buch einen überzeugenden Nachweis der Vielfalt ökonomischen Denkens im 18. Jahrhundert erbringt und aufzeigt, wie lange und wie offen ökonomische Entwürfe diskutiert wurden und wie spät sich die Politische Ökonomie mit ihrem marktliberalen, die Natur vorrangig als Ressource in den Blick nehmenden Ansatz durchsetzte. Mit der Vermeidung ideengeschichtlicher Erfolgsnarrative leistet er so einen wichtigen Beitrag zur Geschichte ökonomischen Denkens.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Lisa Kolb, Rezension von/compte rendu de: Arnaud Orain, Les savoirs perdus de l’économie. Contribution à l’équilibre du vivant, Paris (Gallimard) 2023, 384 p. (NRF Essais), ISBN 978-2-0729-2510-8, EUR 22,50., in: Francia-Recensio 2024/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108320