In der Reihe »Vie des huguenots« widmen sich zwei Neuerscheinungen der Geschichte der südfranzösischen Protestanten im 18. Jahrhundert. Hier konstituierten sich nach der Revokation des Edikts von Nantes die größten Untergrundkirchen Frankreichs.
Der ehemalige Lehrstuhlinhaber für frühneuzeitliche Geschichte an der Université Jean Jaurès Toulouse, Jack Thomas, zeichnet in Les Protestants du Languedoc kleinteilig den Umgang der französischen Justiz mit der hugenottischen Minderheit von der Regierungsübernahme Ludwigs XIV. 1656 bis zum Toleranzedikt von Versailles 1787 durch Ludwig XVI. nach. Acht chronologische Kapitel stellen die Entwicklung der Rechtspraxis vom Verbot der reformierten Religionsausübung bis zur Religionsfreiheit am Ende des 18. Jahrhunderts dar. Quellengrundlage sind die Gerichtsakten und die Eingaben der Anwälte der protestantischen Minderheit, die er in den Archives nationales de France und mehreren Archives départementales und municipales in Südfrankreich ermittelt hat (447–460). Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf dem Gerichtsbezirk des Parlement de Toulouse, in dessen Zuständigkeitsbereich ein Großteil der hugenottischen Bevölkerung Südfrankreichs fiel (14).
Das erste Kapitel zeigt, wie die königliche Gerichtsbarkeit im Bündnis mit dem katholischen Klerus die reformierte Minderheit in der Regierungszeit Ludwigs XIV. sukzessive zum Schweigen brachte und aus dem öffentlichen Raum verdrängte (45–46).
Das zweite Kapitel demonstriert, wie Hugenotten versuchten, sich mithilfe ihrer eigenen Anwälte vor den Gerichten zu verteidigen. Als man ihnen dort immer weniger Gehör schenkte, wandten sie sich an den König – doch ohne Erfolg (101).
Mit dem Verbot der reformierten Religionsausübung durch das Edikt von Fontainebleau ging ein Verbot der reformierten Heiraten einher. Trotzdem wurden in der hugenottischen Untergrundkirche Anfang des 18. Jahrhunderts wieder vermehrt Ehen geschlossen. Der Autor vertritt im dritten Kapitel die These, dass es im Zeitraum zwischen 1724 und 1760 zu einer »Banalisierung« protestantischer Eheschlüsse gekommen sei, ohne dass ihre Verfolgung aufgehört habe (152).
Wie stark die Verfolgung tatsächlich war, lässt sich anhand von drei öffentlichkeitswirksamen Prozessen in den Jahren 1761‑62 ermessen, die vor dem Parlement de Toulouse geführt wurden. Ihnen sind die Kapitel vier bis sieben gewidmet. Das vierte Kapitel behandelt den Prozess gegen den Pastor François Rochette, der durch Zufall im September 1761 auf einem Jahrmarkt im südfranzösischen Dorf Caussade aufgegriffen und inhaftiert wurde. Daraufhin kam es zu einem Tumult der hugenottischen Bevölkerung. Drei reformierte Edelleute, die Brüder Grenier, versuchten den Prediger zu befreien. Gemäß der antiprotestantischen Gesetzgebung verurteilte das Parlement de Toulouse die Beteiligten 1762 zum Tode (183).
Im Oktober 1761 wurde in Toulouse der Leichnam Marc‑Antoine Calas gefunden. Die Behörden beschuldigten seinen protestantischen Vater Jean Calas, der die Konversion seines Sohnes zum Katholizismus habe verhindern wollen. Ein Beweis für die Anklage wurde nicht erbracht. Das Gericht verurteilte Calas zum Tode durch Erdrosselung und Verbrennung des Leichnams auf dem Scheiterhaufen. Der Prozess gegen den Angeklagten erfuhr eine noch größere Aufmerksamkeit als zuvor die Affäre Rochette. Während in Toulouse eigene Anwälte Calas verteidigten, deren Eingaben und Streitschriften das fünfte Kapitel untersucht, widmet sich das sechste Kapitel Voltaires Kampagne für seinen Freispruch, für die der Patriarch von Ferney namhafte Pariser Anwälte engagierte. Thomas vertritt die Auffassung, dass neben Voltaire auch sein protestantischer Intimfeind Laurent Angliviel de La Beaumelle eine zentrale Rolle im Netzwerk zur Verteidigung Calas gespielt habe. Diesem Netzwerk sei es gelungen, die königliche Gerichtsbarkeit in Paris auf ihre Seite zu ziehen, was aber im Angesicht der antiprotestantischen Stimmung in Toulouse das Todesurteil gegen Calas nicht mehr habe verhindern können (310–311).
Im Januar 1762, kurz nach der Affäre Calas, wurde die Tochter der reformierten Familie Sirven tot aufgefunden. Auch hier verdächtigte das Parlement de Toulouse die protestantischen Eltern und leitete eine Untersuchung ein, vor der die Familie ins Exil nach Genf floh. Mit ihrer Verteidigung, die nach langem Ringen zu einem Freispruch und zur Rückkehr der Familie führte, beschäftigt sich das siebte Kapitel (377).
Das achte Kapitel vertritt die These, dass die Advokaten Ende des 18. Jahrhunderts bei der Verurteilung protestantischer Eheschlüsse eine immer größere Rolle zugekommen sei. Die Anwälte reformierter Klienten hätten sich gegen die Vorstellung der Ehe als katholisches Sakrament gestellt und diese zunehmend als weltlichen Vertrag interpretiert, um die Interessen ihrer Mandanten zu vertreten (425–426). Im Anhang findet sich eine hilfreiche Übersicht der Eheprozesse vor der königlichen Gerichtsbarkeit, in die Hugenotten verwickelt waren (431–445).
Der Autor kommt zum Schluss, dass vor allem die Verbindung aus juristischem Plädoyer und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch die Philosophen der Aufklärung einen Wandel im rechtlichen Umgang mit dem französischen Protestantismus bewirkt habe. Dennoch habe die Rechtspraxis zu großen Einschnitten im Leben der reformierten Minderheit geführt, die vielfach ihre materielle und körperliche Existenz gefährdete (429–430).
Die rechtliche Diskriminierung war von Anfang an begleitet von der Forderung nach religiöser Toleranz. Bislang wurde diesbezüglich vor allem das Werk Voltaires in den Mittelpunkt gestellt.1 Der Doyen der französisch-reformierten Religionsgeschichte, Hubert Bost, hat nun eine umfassende Quellenedition zur Geschichte der weniger bekannten Streitschrift Les Toulousaines von Antoine Court de Gébelin aus dem Jahr 1763 vorgelegt. Sie zeigt Interdependenzen zwischen der aufklärerischen und hugenottischen Forderung nach Gewissensfreiheit auf.
Antoine Court de Gébelin war der Sohn französischer Protestanten, der im Schweizerischen Exil mit der Pastorenausbildung für Frankreich betraut war. In dieser Funktion war er in ein Korrespondenznetzwerk mit Vertretern der französischen Untergrundkirche eingebunden und bestens über die aktuellen Geschehnisse in Frankreich informiert (7–8, 22).
In Les Toulousaines beklagt der Autor die drei bereits erwähnten Justizskandale in den Jahren 1761–62. Ausgangspunkt der Betrachtungen war die Affäre um den Pastor François Rochette (564). Court de Gébelin verknüpft in Les Toulousaines diesen Vorfall mit den zwei anderen großen Justizskandalen aus dieser Zeit.
Der Bericht der Les Toulousaines über diese Ereignisse wird in Form eines fiktiven Briefwechsels zwischen einem Einwohner von Toulouse und einem nach Edinburgh geflohenen Hugenotten präsentiert. Das ermöglichte dem Autor einen Spannungsbogen aufzubauen, indem immer wieder neue Informationen über das Geschehen in Toulouse zu Tage treten (23). Hubert Bost kontrastiert in seiner Einleitung die realen Ereignisse mit ihrer Erwähnung in den fiktiven Briefen Court de Gébelins (24–31). Der realistische Charakter der Schrift werde mithilfe authentischer Dokumente aus Frankreich unterstrichen (31–37).
Mehrfach unterbricht Court de Gébelin seinen Bericht über diese Ereignisse, um Betrachtungen zu ihrem soziopolitischen Zustandekommen und ihren moralischen Implikationen einzuschieben. So beschreiben die Briefe V bis VIII den religiösen Fanatismus der katholischen Bevölkerung und des Parlement de Toulouse. Die Briefe X bis XIII widerlegen die Anklage, die Hugenotten seien Kindsmörder. Die Briefe XVIII bis XIX wenden sich gegen die katholischen Anschuldigungen, die reformierten Pastoren stellten eine Gefahr für Frankreich dar. Schließlich interpretieren die Briefe XVIII–XIX Charles de Secondat de Montesquieu als Vordenker der Toleranz.
Die von Hubert Bost vorgelegte Quellenedition der Les Toulousaines folgt der Erstauflage und macht am Ende tabellarisch auf Kürzungen und Textveränderungen der zweiten Auflage aufmerksam (351–388). Im Text selbst stellt der Herausgeber systematisch Querverbindungen zu den Quellen Court de Gébelins her, die durch Sternchen oder eckige Klammern von der Annotation des Originaltextes abgehoben werden (63–349). Dafür hat er unter anderem die Bibliothèque de Genève, die Bibliothèque du Protestantisme français und die Archives Angliviel de La Beaumelle ausgewertet. Die Schreibweise ist an moderne Lesegewohnheiten angepasst, ohne den Textinhalt selbst zu verändern.
Die Editionsgeschichte lässt sich durch eine ausführliche Einleitung (7–51) und insgesamt 146 Briefe von Zeitzeugen, die Aufschluss über die Entstehung, Verbreitungs- und Rezeptionsgeschichte der Les Toulousaines geben, nachvollziehen (391–621). Darüber hinaus macht Hubert Bost auf eine Anzahl von Briefen aufmerksam, die in diesem Zusammenhang belegt, aber nicht erhalten geblieben sind (623–626).
Die Auswertung des Bandes wird durch einen Orts-, Namens- und Literaturindex erleichtert, der in zwei Teile für Les Toulousaines (627–642) und den dazugehörigen Briefwechsel (643–651) untergliedert ist.
Die Edition zeigt, dass Les Toulousaines nicht nur auf Ablehnung der französischen Behörden, sondern auch auf den Widerstand der reformierten Theologieprofessoren in Genf, Lausanne und den Niederlanden stießen. Man warf Court de Gébelin wegen seiner Kritik am Parlement de Toulouse eine Gefährdung der Hugenotten in Frankreich vor (40–43). Um sein Werk zu retten, habe er sich für seine ausschließliche Verbreitung in protestantischen Ländern eingesetzt – doch ohne Erfolg (41). Auch Voltaire habe sich gegen die Les Toulousaines gestellt, um die eigenen Anstrengungen für die reformierten Justizopfer in Frankreich nicht zu gefährden. Der Philosoph brachte Court de Gébelin dazu, die bereits zirkulierenden Exemplare seiner Streitschrift zurückzuziehen und vorerst auf die Publikation einer zweiten, überarbeiteten Fassung zu verzichten, die primär für ein frankokatholisches Publikum bestimmt war (39, 44–45). Der Genfer Rat verbot seinerseits die weitere Veröffentlichung der Les Toulousaines aus Rücksicht auf die französischen Behörden (45). Daraufhin habe sich Court de Gébelin entschlossen, persönlich nach Frankreich zu reisen, um die hugenottischen Gemeinden im Süden und die französische Nationalsynode zu besuchen (46).
Hubert Bost stellt fest, dass die Herausgabe der Les Toulousaines ein Desaster gewesen sei (48). Sie stünden exemplarisch für das Schicksal einer Vielzahl von protestantischen Texten aus dem Zeitalter der Aufklärung, die Toleranz einforderten und auf keinen breiten Widerhall stießen (49).
Aufgrund der Quellenlage und historischen Bedeutung für den Wandel von Verfolgung hin zu religiöser Toleranz ist nicht verwunderlich, dass sowohl in der Quellenedition der Les Toulousaines als auch in der Geschichte des Umgangs der königlichen Gerichtsbarkeit mit den Hugenotten in Südfrankreich die Prozesse gegen den Pastor Rochette, Jean Calas und die Familie Sirven im Mittelpunkt stehen. Hierzu liegen nicht umsonst bereits mehrere Studien vor.2 Die meisten dieser Untersuchungen kreisen um die Person Voltaires und seinen Kampf für Gerechtigkeit und Toleranz. Ohne die Verdienste des Patriarchen von Ferney mindern zu wollen, gelingt es den beiden Neuerscheinungen aus der Reihe »Vie des huguenots« die Toleranzdebatte der 1760er-Jahre auf eine breitere Quellenbasis zu stellen und so weiter zu kontextualisieren. Während Jack Thomas einen rechtsgeschichtlichen Ansatz en longue durée verfolgt, stellt Hubert Bost durch eine minutiöse Dokumentation der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Les Toulousaines Interdependenzen zwischen reformierten und aufklärerischen Toleranzschriften fest. Der Quellenreichtum, der beiden Arbeiten zu Grunde liegt, präsentiert ein detailliertes Bild von der Lage des südfranzösischen Protestantismus zwischen der Revokation des Edikts von Nantes und dem Ende des Ancien Régimes.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christian Mühling, Rezension von/compte rendu de: Jack Thomas (dir.), Les Protestants du Languedoc et la justice royale de Louis XIV à la Révolution. De l’obscurité à la lumière, Paris (Honoré Champion) 2022, 494 p., ill., 1 diagramme, cartes (Vie des huguenots, 92), ISBN 978-2-7453-5722-9, EUR 85,00.; Antoine Court de Gébelin, Hubert Bost (dir.), Les Toulousaines. Avec un dossier de correspondances relatives à la genèse, à l’élaboration et à la réception de l’ouvrage, Paris (Honoré Champion) 2023, 663 p. (Vie des huguenots, 97), ISBN 978-2-7453-5974-2, EUR 98,00. , in: Francia-Recensio 2024/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.4.108325