Schon wieder – oder immer noch – »lettres de rémission«? Sowohl der Autor des vorliegenden Werks wie der Verfasser des Vorworts sind sich bewusst, dass der Gegenstand keineswegs neu ist: Begnadigungsschreiben werden schon lange untersucht, um Zugänge zur spätmittelalterlichen Kultur und Lebenswelt zu eröffnen. Ging es dabei zunächst vor allem um Fragen von Recht und Sitte, fokussierten jüngere Forschungen stärker aus der Warte einer historischen Anthropologie auf die juristische Praxis der Begnadigung und ihr soziales Umfeld (geradezu kanonisch wurde Claude Gauvards »De grâce especial«). Auch der Einsatz von Strafe und Begnadigung als Mittel der Durchsetzung herrschaftlicher Gewalt wurde bereits intensiv diskutiert und an unterschiedlichen regionalen Beispielen aufgezeigt.
Wie ist diesem Material heute also Neues abzugewinnen? Der zentrale Erkenntnisfortschritt liegt nicht in den einzelnen Rechtsfällen begründet, auch wenn diese zuweilen anekdotischen Wert besitzen: Da wird etwa ein Guillemin du Bois erschlagen, ein sergent der Stadt Dijon, weil er gegen die Mauer des Hauses urinierte, in welchem der im Dienst Herzog Philipps des Guten stehende Jehan Arnoul arbeitete (581). Der genauere Blick auf den eskalierenden Streit zeigt, dass es nicht um einen Angriff auf die Autorität des städtischen Dienstmanns ging, mithin eine Auseinandersetzung mit politischen Hintergründen, wie man vermuten könnte. Stattdessen eskalierte ein relativ banaler Vorfall im Alltag der Stadt und fand ein unglückliches Ende. An anderer Stelle wird eine Begnadigung zurückgenommen, weil ein vermeintlich Ermordeter nach längerer Zeit wieder zurückkehrt: »est revenu au païs celui que l’on disoit avoir esté murtry« (210).
Solche Blüten sind wiederholt in dieser Studie zu finden, die auf einer 2018 an der Université de Bourgogne verteidigten Dissertation beruht. Ihr eigentlicher Wert als Forschungsbeitrag resultiert aber vor allem auf der systematischen Aufarbeitung und Durchdringung des Materials: Beaulants Darstellung baut auf etwa 800 lettres de rémission auf, welche die Herzöge und Herzoginnen Burgunds im 14. und 15. Jahrhundert in den von ihnen beherrschten Territorien ausstellten. Auch wenn die Überlieferung zeitlich wie räumlich unterschiedlich ausfällt (und der Autor flämische Texte explizit ausschließt), liegt damit eine eindrucksvolle Basis für die Auswertung vor – zumal auch weitere Materialien aus der Rechnungslegung und dem Justizwesen ergänzend hinzugezogen wurden. Dieser Gesamtrahmen bietet die Möglichkeit, sowohl Entwicklungen wie regionale Differenzen zu identifizieren, die insbesondere die Praktiken in den burgundischen Niederlanden von jenen im eigentlichen Herzogtum und der Freigrafschaft unterscheiden.
Die präzise und detailorientierte Darstellung gliedert sich in drei Großabschnitte. Zunächst präsentiert der Autor ausführlich die archivalische Überlieferungslage, was für zukünftige Arbeiten ausgesprochen nützlich sein wird (37–96), und stellt den institutionellen Rahmen des Rechtswesens und der Begnadigungspraxis vor. Ein zweiter Abschnitt widmet sich konkret den Begnadigungspraktiken: Hier werden die begnadigten Straftaten ebenso präzise dargestellt wie die narrativen Strategien in den Texten der Begnadigungsgesuche. Detailliert zeichnet der Autor zudem die Tendenz einer zunehmenden Monetarisierung der fürstlichen Gnade nach: Nicht nur die Urkundenausstellung selbst spülte Geld in die herzoglichen Kassen, sondern auch die im 15. Jahrhundert zur Regel werdende Vorgabe einer Bußzahlung (amende civile) – deren Bedeutung für den herrschaftlichen Gesamthaushalt aber relativ bescheiden blieb (471). Neben der Begnadigung von Straftaten spielten andere fürstliche Gnadenakte – Adelserhebungen, die Legitimierung von »Bastarden« und ähnliches – eine insgesamt wohl wichtigere Rolle. Der letzte Abschnitt widmet sich schließlich der politischen Dimension des Gegenstands: Der Fokus liegt hier einerseits auf Begnadigungsakten gegenüber aufständischen Städten und Gemeinschaften (an denen es in den burgundischen Niederlanden bekanntlich nicht mangelte), andererseits auf der potentiellen Konkurrenz zwischen herzoglichen und urbanen Ansprüchen auf juristische Regelungskompetenz. Letztere untersucht Beaulant am Beispiel der Stadt Dijon, die durchaus selbstbewusst ihre einschlägigen Privilegien zu verteidigen suchte, ohne aber im Konflikt den offenen Aufstand zu wagen, wie es manche flandrischen Städte taten. In diesem Teil findet auch eine Reihe von knappen Detailstudien ihren Platz (565–586), die begnadigte Straftäter mit ihren Fällen vorführen und dabei wiederholt die Diskrepanz verdeutlichen, die sich zwischen den Protokollen der juristischen Untersuchung und den Narrativen der Begnadigungsgesuche einstellen kann.
Es wäre vermessen, hier auch nur ansatzweise die Vielzahl der Ergebnisse dieser Studie im Detail vorstellen zu wollen: So kann der Autor etwa aufzeigen, dass die Herzöge von Burgund bereits im frühen 14. Jahrhundert die königliche Praxis der Begnadigung aufgreifen (103) und dass dieses Recht auch von den Herzoginnen ausgeübt wird (so etwa von Margarethe von Flandern, der Ehefrau Herzog Philipps des Kühnen: 109–122). Deutlich wird auch, dass das Recht zur Begnadigung in Stellvertretung ausgeübt werden konnte, etwa durch regional zuständige baillis, die Herzöge aber im 15. Jahrhundert zunehmend darum bemüht waren, sich dieses Privileg selbst vorzubehalten und den (aus ihrer Sicht) missbräuchlichen Einsatz einzuschränken (162–170). Schließlich wird die Notwendigkeit deutlich, sauber zwischen unterschiedlichen Formen des Gnadenerweises zur differenzieren: »grâce, pardon, rémission, rappel de ban, abolition« (194).
Beaulant entfaltet damit ein kenntnisreiches Panorama, das durch die analytische Systematisierung und statistische Auswertung wertvolle Einblicke eröffnet. Dabei ist das Werk ausgesprochen sorgfältig redigiert und bietet rein formal wenig Grund für Kritik. Allerdings mag man sich bei der Lektüre zuweilen fragen, ob sich die Darstellung wiederholt nicht hätte raffen lassen, um den Kern der Aussagen klarer herauszustellen: Gerade in den systematisierenden Abschnitten begegnen zahlreiche Hinweise auf konkrete Einzelpersonen, die knapp aufscheinen, während eigentlich der strukturelle Aspekt im Fokus steht, den sie exemplifizieren. Dabei versteht man die Zusammenhänge und Konstellationen nicht immer, etwa hinsichtlich der Vergewaltigung der jungen Jolye, für die Pierre Cornet und Simon Chantereau begnadigt wurden (259–260, 380). Tatsächlich, so könnte man relativierend anmerken, tut ein tieferes Verständnis des Vorfalls für die Argumentation des Autors letztlich wenig zur Sache: Wie in anderen Fällen auch, sollen hier lediglich strukturelle Aspekte mit Namen konkretisiert belegt werden. Deren Fülle verwirrt aber zuweilen mehr als sie überzeugt, ohne zusätzliche Evidenz zu bieten. Hier hätte die Darstellung durch eine Reihe von Kürzungen an Zugänglichkeit gewinnen können. Dies gilt umso mehr, als der Autor eine ganze Reihe von Detailaspekten bereits in einer eindrucksvollen Serie von Aufsatzpublikationen ausgearbeitet hat. Etwas bedauernd stellt man schließlich fest, dass deutsche Titel in der Bibliographie fast vollständig fehlen, obschon entsprechende Werke wiederholt Wichtiges zum Gegenstand hätten beitragen können: Das gilt für Fragen rund um rituelle Praktiken und symbolische Kommunikation ebenso wie für die Spionage (mit einem »Außenblick« auf Burgund wäre etwa auf die Arbeit von Bastian Walter zu verweisen)1 oder die Rolle der Blasphemie und der schmähenden Rede.2
Abgesehen von diesen Einschränkungen ist dem Autor aber vor allem zu einem eindrucksvollen Opus zu gratulieren, das zukünftig in keiner Bibliothek zum spätmittelalterlichen Burgund oder Frankreich fehlen sollte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Oschema, Rezension von/compte rendu de: Rudi Beaulant, Les Pratiques de la grâce des ducs et duchesses de Bourgogne à la fin du Moyen Âge. Préface de Bruno Lemesle, Paris (Classiques Garnier) 2024, 674 p. (POLEN – Pouvoirs, lettres, normes, 36), ISBN 978-2-406-15946-9, DOI 10.48611/isbn.978-2-406-15948-3, EUR 96,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109362