Beim Lesen des Titels dieses Buches kommt die Frage auf, wie es gelingen soll, auf 182 Seiten ein so weitgefasstes Thema – Hagiographie in Byzanz und der westlichen Welt in Spätantike und Mittelalter – umfassend zu behandeln. Und um es gleich vorwegzunehmen: Auch wenn den Herausgebern und Beitragsautoren der Spagat recht gut gelungen ist, bleiben doch einige konzeptuelle Schwächen sichtbar, auf die wir am Ende der Besprechung noch einmal zurückkommen werden. Aber präsentieren wir zunächst den Inhalt der acht Beiträge, die die überarbeiteten Fassungen von Vorträgen sind, die auf einer internationalen Genter Tagung im Jahre 2016 gehalten wurden. Alle sind bis auf eine Ausnahme in englischer Sprache geschrieben.
In einem einleitenden Kapitel resümiert Koen De Temmerman in groben Linien die Geschichte der hagiographischen Forschung und unterstreicht dabei die Bedeutung von Marc Van Uytfanghe, der Hagiographie nicht mehr als Genus, sondern als Diskurs angesehen hat. Dadurch wurde der Fokus vermehrt auf den Text und seine Funktion in seinem historischen und kulturellen Kontext gerichtet. Gattungsübergreifend können so Heilige als Helden, Modelle oder unterhaltsame Figuren, und oft als alle drei in einem, präsentiert werden.
Stephanos Efthymiadis interessiert sich für die Beziehung zwischen Haupt- und Nebenprotagonisten in der byzantinischen Hagiographie. Seit der Spätantike hat der Heilige und besonders der Märtyrer einen Gegenpart, und je stärker dieser ist, desto größer ist das Verdienst und die »Heldentat« der Hauptperson. Es kommt so zum Teil zu gewissen Parallelen mit der »unterhaltenden Erbauung« in romanhafter Literatur.
Sabine Fialon, deren Beitrag auf Französisch geschrieben ist, untersucht die Lobrede auf Heilige in spätantiker und frühmittelalterlicher nordafrikanischer Literatur (2.–6. Jahrhundert). Da allein Gott Wunder vollbringen kann, unterstreichen die Hagiographen moralische Tugenden ihrer Protagonisten und stellen zudem andere Qualitäten wie ihre rhetorischen Fähigkeiten heraus. Bei Frauen kann auch lobend hervorgehoben werden, dass sie Grenzen ihres traditionellen Rollenmodells überschreiten.
Der darauffolgende Beitrag von Anne Alwis ist den byzantinischen Viten der spätantiken Märtyrerinnen Tatiana und Ia gewidmet, die Jahrhunderte später neu verfasst wurden. Konkret wird gezeigt, wie das jungfräuliche Ideal von dem einer machtvollen Rednerin, die heidnischen Machthabern argumentierend standhalten konnte, verdrängt wurde.
Danach geht es in die spätkarolingische Zeit des Notker Balbulus. Piet Gerbrandy analysiert dessen Metrum de vita S. Galli, das literarisch in einmaliger Weise Prosa und versifizierte Passagen verbindet. Es entzieht sich so den meisten Literaturgattungen und -kategorien und bot damit dem Autor die Chance, all sein rhetorisches Geschick zur Schau zu stellen.
Im nächsten Beitrag führt uns Markéta Kulhánkhová in die Welt der Wüstenväter, indem sie die Historia Monachorum und die Historia Lausiaca untersucht, Texte, die offensichtlich weniger das Ziel hatten, die Leser und Hörer zu einem asketischen Leben zu bringen, als man allgemein annimmt. Es ging den Autoren vielmehr um das christliche Leben im Allgemeinen.
Christian Høgel interessiert sich anhand diverser Viten, und insbesondere jener der Heiligen Cosmas und Damian, für die Verbindung von Wundern, medizinischen Kenntnissen und Bezahlung. Das gängige Bild scheint hier zu sein, dass die Heilkundigen, die als Heilige verehrt wurden, immer Geld verweigerten.
In der letzten Studie von Virginia Burrus geht es dann um das Nachleben von Konstantina, der Tochter Konstantins. Ihre Jungfräulichkeit wird hier weniger herausgehoben, als vielmehr ihre rhetorischen und theologischen Kenntnisse.
Die Qualität der Studien macht den Band als Ganzes interessant und bringt nicht nur neue Erkenntnisse, sondern führt auch zu vielen Ideen für weitere Forschungen. Glücklicherweise haben alle Autoren versucht, ihre Einzeluntersuchungen in einen größeren Zusammenhang zu stellen und weitreichende Perspektiven aufzuzeigen, so dass das Buch tatsächlich eine gewisse Einheit hat und nicht in pure Fallstudien zerfällt. Ein zusammenfassendes Kapitel am Schluss hätte dem Band aber sicher gutgetan, v.a. im Hinblick auf das sich wandelnde Ideal heiliger Frauen und die Unterschiede zwischen der östlichen und der westlichen Welt. Es bleibt so trotz allem zu befürchten, dass der eine oder andere Beitrag in der Forschung nicht den verdienten Widerhall findet, da man ihn hier nicht unbedingt erwartet. Ein weiterer Kritikpunkt – und dies wird im einleitenden Kapitel besonders deutlich – ist die Konzentration auf die deutsch- und englischsprachige Forschung. Dabei haben sich in den letzten Jahrzehnten gerade französische Mediävisten um hagiographische Texte verdient gemacht, z. B. mit dem Konzept der »réécriture hagiographique«. Dieser literarisch-historische Ansatz hätte in dem hier besprochenen Band deutlich mehr Berücksichtigung erfahren können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Klaus Krönert, Rezension von/compte rendu de: Koen De Temmerman, Julie Van Pelt, Klazina Staat (ed.), Constructing Saints in Greek and Latin Hagiography. Heroes and Heroines in Late Antique and Medieval Narrative, Turnhout (Brepols) 2023, 182 p., 1 b/w fig. (Fabulae. Narrative in Late Antiquity and the Middle Ages, 2), ISBN 978-2-503-60282-0, DOI 10.1484/M.FABULAE-EB.5.131816, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109369