Die vorliegende Artikelsammlung bildet den vierten und letzten Band der Reihe Epistola des gleichnamigen internationalen Forschungsprojektes, das sich der Erforschung des Briefes als Objekt und literarisches Genre auf der iberischen Halbinsel und im lateinisch-sprachigen Westen hauptsächlich aus der Zeit von Spätantike bis Hochmittelalter gewidmet hat.
Nachdem in den ersten drei Bänden die vielfältigen Formen des Briefes,1 seine Funktion in der Diplomatie2 und im Konflikt3 thematisiert wurden, richtet sich der Fokus hier noch einmal auf drei pragmatische Aspekte epistolarer Texte in ihrer kulturellen Umwelt. Vierzehn Beiträge französischer, spanischer und deutscher Sprache werden eingerahmt von einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung, bevor die Liste der erwähnten Quellen und eine Bibliographie den Band abschließen.
Die Artikel sind in drei Abschnitte sortiert, die jeweils mit ein paar Sätzen eingeleitet und nochmal in zwei Unterabschnitte aufgeteilt werden. Der erste, »La lettre et son environnement dialogique«, widmet sich dem Zusammenhang zwischen epistolaren Sprachregistern und der sozialen Wirkmacht des Briefeschreibens. Sowohl Benoît Grévin »La lettre dans son environnement sociolinguistique. Gaule–Italie, VIe–début VIIIe siècle« (17–31) als auch Christiane Veyrard-Cosme »Les facettes du discours épistolaire dans les Lettres d’Éginhard« (33–53) stellen detailliert stilistische Merkmale ihrer jeweiligen Quellen vor, die Rückschlüsse auf die Fähigkeiten, aber auch die anzunehmenden Absichten der zeitgenössischen Beteiligten zulassen. Eugenio Riversi »Épîtres et dialogues. Réforme et culture de la confrontation à Rome avant la querelle des Investitures« (57–73) und Ludwig Vones »Brief und Ideologie. Betrachtungen zum Schriftverkehr Papst Gregors VII. mit den Herrschern der Hispania« (75–89) hingegen richten den Blick speziell auf Situationen kirchenpolitischer Spannungen, in denen den päpstlichen Nachrichten nicht zuletzt propagandistische Funktion zukam – mit unterschiedlichem Ergebnis.
Die Beiträge im zweiten Abschnitt »Contextes et cotextes: Écriture et réécriture de la lettre« richten den Fokus auf das zweite Leben von Briefen, also den Funktionswandel, den sie erfahren, sobald ihre Information übermittelt ist und sie verwahrt oder ihre Texte in einen anderen Kontext übertragen werden. Den Auftakt macht Isabel Velázquez »Epístolas epigráficas en la Antigüedad Tardía y Alta Edad Media. Ejemplos de Hispania« (97–113), die epistolare Texte auf unterschiedlichen Trägermaterialien, beispielsweise Ton oder Schiefer, vorstellt und die definitorischen Probleme umreißt, die im Vergleich zu auf Pergament überlieferten Briefen entstehen können. Daraufhin untersuchen Bruno Dumézil »La lettre et ses lecteurs. L’usage du matériau épistolaire chez Grégoire de Tours« (115–128) und Amancio Isla »La epístola De laude Pampilone y el epitalamio de Leodegundia. La disolución del género y el proyecto del Códice de Roda« (129–144) die Wechselbeziehungen zwischen kopierten Briefen und den Texten bzw. Handschriften, in die sie übertragen wurden. Historische Detektivarbeit im engeren Sinne betreiben schließlich Nathanaël Nimmegeers »Revendiquer, reconstruire et convaincre. La correspondance d’Adon de Vienne (860–875)« (147–157) und Bruno Judic »La lettre perdue du pape Honorius« (159–173), die sich auf die Spur der Funktion von fiktiven und nur noch mittelbar belegbaren Briefen begeben.
Im dritten Abschnitt »La fonction socialisante de la lettre« steht wieder die zwischenmenschliche Wirkmacht von Briefen im Vordergrund. Camille Bonnan-Garçon »Munus flatteur, présent ou sportule? Le billet accompagnant un cadeau dans l’Antiquité tardive« (181–195) widmet sich den Zusammenhängen zwischen der Form von Briefen, die ein Geschenk begleiteten bzw. selbst Geschenk waren, und den sozialen Beziehungen der Beteiligten. Dominique Barbe »Sacramenta epistolaria. Rituel épistolaire et communion chrétienne à la fin de l’Antiquité« (197–216) und Ruth Miguel Franco »Las epístolas consolatorias de Braulio de Zaragoza« (217–234) hingegen richten den Blick auf die seelsorgerische Funktion, die dem Schreiben und Rezipieren epistolarer Texte zukommen konnte. Bei Julian Führer »Les réseaux épistolaires des Anglo-Saxons et des Irlandais sur le continent au haut Moyen Âge« (237–249) und Sébastien Fray »Les enjeux de la correspondance de Gerbert d’Aurillac avec les moines de Saint-Géraud« (251–272) steht schließlich die identitätsstiftende und vernetzende Wirkmacht epistolarer Korrespondenz von Gruppen im Vordergrund, die an der Christianisierung des (Nord-)Westens beteiligt waren.
Die Klammer um diese Beiträge, die sich aus der »Introduction« von Thomas Deswarte (1–10) und den »Conclusions« von Klaus Herbers (273–278) ergibt, weist insofern einen erfrischenden Bruch mit Gewohntem auf, als dass die Einleitung sich auf einen konzisen Umriss grundlegender Herausforderungen des Genres Brief und die Ansätze des Bandes konzentriert, während erst die Zusammenfassung fast alle im Band versammelten Artikel (und jene Beiträge des Projektes, die nicht in Artikelform gebracht bzw. eigenständig veröffentlicht wurden) anspricht und einbettet. Auch einige Fragen, die sich an den Band, vor allem aber an das Gesamtprojekt anschließen, werden hier formuliert, wie beispielsweise die Einflüsse auf Briefkulturen durch den arabisch-lateinischen Kulturaustausch (278).
An dieser Stelle ist vielleicht ein Kritikpunkt anzubringen, der aus der Perspektive der Frauenforschung zu machen ist: Es fällt auf, dass – mit Ausnahme des Beitrags von Amancio Isla im zweiten Abschnittt und der Beiträge von Egbert Türk und Ursula Vones-Liebenstein4 in Epistola 1 – die Rolle von Frauen in der betrachteten Epoche kaum thematisiert wird. Freilich ist hier zum Teil die Quellenlage als Begründung anzuführen, aber bei einem pragmatischen Zugriff und der Frage nach dem Brief in seiner sozialen Umwelt wäre eine Positionierung zu diesem Aspekt doch wünschenswert gewesen. Es gilt auch hier, dass die Abwesenheit von Belegen nicht der Beleg von Abwesenheit sein muss, sondern vielmehr die Frage nach den Ursachen und Folgen von Lücken und Diskrepanzen eröffnet. Solche und ähnliche Genderaspekte hätten zumindest angerissen werden können, um den Anschluss an andere Projekte der gegenwärtigen Briefforschung zu gewährleisten.5 So hält sich Epistola 4 zum größeren Teil in eher bekanntem Terrain auf.
Davon abgesehen finden sich aber in vielen Beiträgen neue Perspektiven und wertvolle methodische Anregungen, die auch auf andere Gebiete der Briefforschung übertragbar sind. Der besondere Erfolg der Reihe und des Gesamtprojektes ist also nicht nur, einem modernen und multifokalen Blick den Rahmen geboten, sondern auch internationale Forschende zusammengebracht und die Vitalität des Forschungsbereichs gefördert zu haben. Fraglos werden zukünftige Projekte davon umfänglich profitieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Lena Vosding, Rezension von/compte rendu de: Thomas Deswarte, Klaus Herbers, Nathanaël Nimmeggeers (dir.), La lettre dans son environnement. IVe–XIe siècle, Madrid (Casa de Velázquez) 2024, XII–329 p. (Epistola, 4), ISBN 978-84-9096-440-8, DOI 10.4000/126qb, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109370