Der Band vereinigt 21 Beiträge des Internationalen Kolloquiums »Johannes Gerson als Autor« in Montpellier vom 4. bis 6. April 2018. Von Gerson (1363–1429), Theologe und Philosoph, Hofprediger und Universitätslehrer, Kanzler der Universität Paris, (Kirchen)Politiker und Mystiker sind ca. 500 Schriften erhalten, wovon nur eine geringe Anzahl in textkritischen Ausgaben vorliegt; die meisten ruhen in der Gesamtausgabe von P. Glorieux (Paris 1960–1973). Die beeindruckende Vielfalt der Themen in diesem Band stellt Isabelle Fabre in ihrer Einleitung vor: 1. »Poetische und stilistische Fragestellungen«; 2. »Die Frömmigkeit bei Gerson, Praxis und Ausdrucksweisen«; 3. »Gerson auf der politischen und intellektuellen Bühne«; 4. »Schicksale der Werke Gersons«; 5. »Manuskripte und Probleme der Edition: auf dem Weg zu einer neuen Edition des Gesamtwerkes«.

Im ersten Teil untersucht Maureen Boulton unter dem Titel »Imaginatio und mystische Theologie in Gersons französischen Predigten« die Bedeutung von imaginatio als seelischem Vermögen, als dessen Produkt und schließlich als Mittel der Rhetorik in Gersons erbaulichen Schriften, um die Annäherung an Gott und die Vereinigung mit ihm für Laien erfassbar zu machen. Die dynamische Interaktion zwischen scholastischem Diskurs und rhetorischen Elementen beobachtet Viviane Griveau-Genest an metaliterarischen Äußerungen Gersons in beiden Sprachen. Den Kontrast zwischen Gersons Kritik am allzu wörtlichen Verständnis des biblischen Textes (Johannes Hus) und der rein allegorischen Auslegung (Jean Petit in der Frage des Tyrannenmordes) findet Matthew Vanderpoel aufgehoben in Gersons Überzeugung von einer grundsätzlichen Unbestimmtheit des Bibeltextes als »nicht-apophantisch« im Sinne Aristoteles’, die eine sorgsame Beachtung der biblischen Rhetorik erfordert. Im Blick auf Gersons erbauliche Dichtung, die biblische Stoffe in freier Weise amplifiziert, entscheidet über deren Wahrheitsgehalt eine fromme Gläubigkeit, die nicht gegen heilsnotwendige Wahrheiten verstößt und sich an das Wahrscheinliche (probabile) hält, so Isabel Iribarren, »Zu einer ars poetica Gersons«. Mit metrischen Analysen der Verse Gersons weist Giovanni Matteo Roccati dessen Fähigkeit nach, Verse nach klassischen Mustern zu machen.

Die zweite Abteilung eröffnet Cédric Giraud: »Vom liturgischen Formular zur literarischen Schöpfung: Gerson und das Gebet«. Aus der Tradition nimmt Gerson typische Elemente auf, doch greift er zu jeweils anderen Mitteln bei Gebeten im Lateinischen und in der Volkssprache; in diesen legt er Wert auf die Erregung von Gefühlen, in jenen eher auf logische Argumentation. In seinem Beitrag »Frömmigkeit des Volkes und der Frauen, und Glaubenspraxis der Gebildeten: Die dynamische Schnittstelle zwischen Latein und Volkssprache bei Johannes Gerson und Marguerite Porete« verteidigt Earl Jeffrey Richards Gerson gegen den Vorwurf der Misogynie, räumt jedoch seine Skepsis gegenüber schriftlichen Erzeugnissen frommer Frauen ein. Sie sollten auf jeden Fall vom Papst geprüft werden. Fromme Gefühle sind Gerson nicht fremd, wie aus dem Beitrag »Gefühl und Frömmigkeit am Ausgang des Mittelalters: Gerson und das Mitleiden (compassio)« von Carla Casagrande und Silvana Vecchio hervorgeht. Als spezifisch christliche Tugend in der Nachfolge Christi versieht compassio das Amt, die »klassischen« Gefühle zu dominieren und zu harmonisieren. In enger Verbindung mit seiner Idee des Canticordium (»Gesang des Herzens«) wandert die compassio von der Moraltheologie hinüber zur Mystik, um dort für »einen guten Gebrauch der Gefühle« zu sorgen. Graeme M. Boone (»Gerson musicus«) gibt dazu den musikhistorischen Hintergrund in der Dur-Moll-Beziehung, die Gerson aufbauend auf den Handzeichen der Solmisation parallel zu den Kompositionen seines Zeitgenossen Dufay zu einer neuen Affektivität in der Musik, v. a. im Gesang, führt.

Dritter Teil: In ihrem Beitrag »Urteil und Strafe für einen vorsätzlichen Mord« untersucht Lucie Jollivet Gersons Stellungnahmen zum Mord an Ludwig von Orléans bzw. zu Jean Petits Rechtfertigung des Mordes. Mit der Erforschung des Tatmotivs und der begleitenden Umstände führt Gerson wesentliche Elemente des Rechtsstaates ein. Indem er sich allerdings in Predigten vor dem König der Kreuzzugsrhetorik gegen Juden und Sarazenen bedient, will er mit ihrem Negativbeispiel, wie Nancy McLoughlin (»Gerson und der Kreuzzug«) herausstellt, die Einheit der Kirche gegen die »anderen« befördern zum Zweck der Beendigung des Schismas. Mit der Tätigkeit der erstaunlichen Christine de Pizan als Autorin und Herausgeberin von Schriften Gersons befasst sich Lori J. Walters. Im eigenen Skriptorium ließ sie diese für den Hof der Königin in französischer Sprache bearbeiten und publizieren und sorgte damit für ihre frühe Verbreitung. Die Bedeutung Gersons für die Weiterentwicklung der Moraltheologie sieht Rudolf Schüssler (»Gerson und eine milde Moral«) darin, dass er dem Handelnden die Freiheit lassen wollte, sich im Zweifelsfall für diejenige Alternative zu entscheiden, die seinem urteilenden Verstand plausibel (probabile) erschien, da es letzte moralische Gewissheit nicht geben könne. Mit dieser Einstellung beeinflusste Gerson die Moraltheologie der Jesuiten ebenso wie mit seiner mystischen Theologie, so Yelena Mazour-Matusevich, »Johannes Gerson und die frühen Jesuiten«. In seinen theoretischen Äußerungen wendet sich Gerson nach Marc Vial, »Die Theorie des Johannes Gerson in der Geschichte des Diskurses über die mystische Theologie«, gegen die Suche nach außergewöhnlichen spirituellen Erfahrungen; für ihn ist Mystik die tägliche Versicherung eines durch göttliche Gnade gelenkten Lebens.

Im vierten Teil stellt Virpi Mäkinen Gersons Theorien von Recht und Herrschaft und ihre Wiederaufnahme bei späteren Autoren vor. Eine ganz andere, parodistische Rezeption Gersons deckt Gilles Polizzi (»Das Phantom Gerson bei Rabelais«) auf, der darin einen weiteren Beweis für Gersons literarische Qualitäten sieht. Eine direkte Rezeptionslinie bis ins 21. Jahrhundert zieht Bénédicte Sère in ihrem Beitrag »Gerson als Ekklesiologe: Wiederentdeckungen der Modernität«. Sie notiert darin seine im Laufe des Lebens veränderte Auffassung vom Konzil als Instrument der päpstlichen Macht hin zur vollmächtigen Verkörperung der Kirche: Ecclesia vel concilium eam repraesentans.

Der fünfte Teil hat das Corpus Gersonianum als Ganzes und in Teilen im Blick: Fabre und Geneviève Hasenohr erbringen durch methodische Recherche den Nachweis, dass der »Kleine Traktat« BNF, fr. 1843 ein »Pseudo-Gerson« sei, und widersprechen damit Richards in seinem Beitrag in Teil 2. Der (Selbst)Darstellung Gersons in den Handschriften widmet sich Béatrice Beys; mit instruktiven Abbildungen zeichnet sie sein Bild als Pilger (Gerson = Fremdling), als Magister und Prediger. Schließlich leistet Daniel Hobbins einen Beitrag zum ungelösten Problem der Datierung der Werke Gersons in der Überzeugung, dass diese zuverlässig nur aufgrund zeitgenössischer Verzeichnisse gelingen kann, die Gersons jüngerer Bruder Jean, der Coelestiner, zu verschiedenen Zeiten und Anlässen erstellt hat. Ein Anhang mit gegliederter Bibliographie und einem Index nominum et operum beschließt den Band.

Corrigenda: S. 61, l. 12 lies: gloriosissimi, copiosissimi (2x), l. 1 v. u.: supereminenter; S. 132, l. 1: per cola et commata; S. 140, l. 3 v. u.: adverterem; S. 141, l. 10: cujuslibet; S. 152, l. 10: »in den weltlichen Wissenschaften, besonders in der Logik«; S. 154, n. 29: »dass er sich erniedrigt hat, nicht weil er… sondern weil er«; S. 158, n. 39: »muss für verdächtig gehalten werden, wenn sie nicht zuvor nach der zweiten der sechs Arten […] sorgfältig geprüft wurde«; S. 352/4: dominium evangelicum.

In der Summe verwirklicht der ansprechende Band das Vorhaben, Johannes Gerson als Schöpfer von Literatur abzubilden, in eindrucksvoller Weise. Damit wird die Verengung auf den Theologen oder den Mystiker Gerson aufgebrochen und der Zugang zu einer literarischen Würdigung eröffnet. Zugleich macht er neugierig auf weitere Forschung. Zwei Anregungen dazu: In Johannes von Salisbury hat Gerson einen Vorläufer im 13. Jahrhundert in der Wertschätzung des probabile1 und in der (entgegengesetzten) Einstellung zum Tyrannenmord: Tirannum occidere non modo licitum est sed aequum et iustum.2 Hat Gerson sich mit ihm auseinandergesetzt? Zur Rezeption Gersons in Deutschland: Auf zwei schwäbischen Kanzeln (Bad Urach und Weilheim/Teck) ist er zusammen mit den vier kanonischen Kirchenvätern abgebildet. In der protestantischen Bekenntnisschrift Confessio Augustana ist er an drei Stellen namentlich zitiert.3

1 S. Johannes von Salisbury, Metalogicon, eingel., übers., komm. von H. Köhler, Stuttgart 2025 (im Druck), Buch II Kap. 13–14 und passim.
2 Johannes von Salisbury, Policraticus, hrsg. von Clement C. J. Webb, Oxford 1909, Bd. 1, 232 (Buch III Kap. 15).
3 Johannes Gerson, Trost der Theologie und Apologetischer Dialog, eingel., übers., komm. von H. Köhler, Stuttgart 2018, XXXVIII–XLII.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Helga Köhler, Rezension von/compte rendu de: Isabelle Fabre (dir.), Jean Gerson écrivain. De l’œuvre latine et française à sa réception européenne, Genève (Librairie Droz) 2024, 636 p. (Publications romanes et françaises, 278), ISBN 978-2-600-06489-7, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109371