Die großen Siegelwerke des 19. Jahrhunderts, die im Prinzip eine Katalogaufnahme der Siegel des Mittelalters darstellten, finden sich v. a. im norddeutschen Teil des deutschsprachigen Raumes.1 In anderen Landesteilen fehlen solche Werke bzw. liegen nicht vor. Umso größer ist das Verdienst, dass in den letzten Jahrzenten die Sphragistik mit dem Bereich der Grundwissenschaften wieder einen kleinen Aufschwung genommen hat, der auch solche thematischen Kataloge zu einzelnen Siegelbeständen miteinschließt.
In seiner Dissertation Die Siegelpraxis der Fuldaer Stiftspfleger (1011‑1531) möchte Daniel Götte beantworten, »welche Siegel die Fuldaer Stiftspfleger des Mittelalters an Schriftstücken wie einsetzen, um in Krisenzeiten die ihnen anvertraute Landes- und Finanzverwaltung der Abtei auch über rechtliche Befugnisse hinaus auszuüben« (3).
Wann immer die Herrschaft der Reichsabtei Fulda im Mittelalter außer Kontrolle geriet, konnten das Kloster oder der römisch‑deutsche König weltliche Stiftspfleger ernennen, um das Stift wirtschaftlich und administrativ-politisch neu ordnen zu lassen. Dabei entstanden Urkunden und Siegel, die im Kontext ihrer Administration und ihrer Entwicklung bislang noch nicht genauer untersucht worden sind. Dieser Aufgabe stellt sich Götte in seiner Arbeit. Dazu werden die rechtlichen Vorgaben für die Stiftspfleger (zwischen 1011 und 1531 sind es 15 an der Zahl) mit dem tatsächlichen Vorgehen, also der Siegelpraxis, verglichen. Als drei leitende Motive (»Leitfragen«) werden die »Voraussetzungen für die Siegeltätigkeit der Stiftspfleger«, die »Anwendung von Siegeln durch Pfleger ohne oder mit klösterlichen Siegeln« sowie der »Nutzen von Pflegschaftssiegeln für die Landesverwaltung« genauer betrachtet.
Die Einführung enthält unter anderem zwei Tabellen (34–37), die einen Blick über die behandelten Stiftspfleger, ihre Siegel, Umstände ihrer Stiftspflegschaft und die damit verbundenen Aufgaben erlauben. Der Forschungsstand (9–22) bezieht sich leider nur auf die Erforschung der genannten Siegel, verzichtet aber auf eine Einordnung in einen größeren Forschungskontext. Dieser findet sich vorwiegend im Unterkapitel »Methode und Vorgehen« (26–38). Demnach verbindet die vorliegende Studie eine quantitative Katalogisierung der Siegel der Fuldaer Stiftsverwalter und ihrer Vertragspartner mit einer qualitativen Auswertung dieser an den Urkunden zusammenwirkenden Siegel. Letztere greift Konzepte auf, die sich mit der Bedeutung (Semiotik) von Siegeln befassen (z. B. Präsenz und »Realpräsenz«, Inszenierung usw.), besonders mit Rückgriff auf das Konzept »usage et image« von Brigitte Miriam Bedos-Rezak.
Die folgenden Kapitel haben eine klare Gliederung, die nach verschiedenen Typen von Siegeln und ihren Kombinationen aufgeteilt sind: Pfleger mit persönlichen und klösterlichen Siegeln, personale Amtssiegel, Gemeinschaftssiegel, Wappensiegel. Sehr nützlich sind die Zusammenfassungen eines jeden Kapitels und die Ergebnisdarstellungen etlicher (warum nicht aller?) Unterkapitel, die den Umstand ernst nehmen, dass Dissertationen selten von der ersten bis zur letzten Seite, sondern mehrfach sequenziert gelesen werden. Götte gelangt durch die Betrachtung, wer wann wie viele Siegel verwendet, zu bemerkenswerten Ergebnissen. So siegelten Hermann von Buchenau und Abt Johann I. von Merlau trotz ihrer Differenzen mit gemeinsamen Bonifatiussiegeln, die mit nachrangigen Konventssiegeln, die erneut Bonifatius darstellten, ergänzt wurden und dadurch eine gesteigerte Einvernehmlichkeit nach außen suggerierten.
Interessant ist im sechsten Kapitel der Gebrauch der Kooperation von sechs Stiftspflegern in der Zeit von 1382–1385, die sich trotz einer gewissen persönlichen Varianz auf das Paradiessiegel mit dem Bild des »zweiten« Heiligen Simplicius einigen konnten. Die persönlichen Familien und/oder Amtssiegel ergänzten und bestärkten im Gebrauch die mit dem Gemeinschaftssiegel unterfertigten Urkunden.
Nach dem Quellen- und Literaturverzeichnis wird die Arbeit durch einen ausführlichen Siegelkatalog (423–514) abgeschlossen, durch ein eigenes Inhaltsverzeichnis erschlossen und akribisch mit Belegstellen versehen. Das Inhaltsverzeichnis erleichtert das Auffinden bestimmter Siegeltypen. Die Siegelabbildungen sind nicht nur farbig und in besserer Qualität abgedruckt, sondern auch mit Hinweisen über das Größenverhältnis zum Original ausgestattet. Darüber hinaus finden sich im Katalogteil verschiedene in Bezug auf die Sphragistik wichtige Informationen zu den Objekten, u.a. natürlich die Siegelumschrift und ein Nachweis über die allgemeine Nutzung. Ein ausführlicher Index erleichtert zusätzlich die Recherche. Der Siegelkatalog steht in der Tradition der großen Siegelwerke des 19. und frühen 20. Jahrhundert und wurde schon von Isabelle Guerreau für geistliche Siegel2 und zuletzt von Barbara Klössel-Luckhardt für das Kloster Walkenried3 in ähnlicher Weise ausgeführt.
Insgesamt handelt es sich um eine höchst verdienstvolle Arbeit, die die Ausführungen in der Auseinandersetzung mit der Siegelpraxis der Stiftspfleger deutlich erleichtert. Gerade durch die detailreiche Untersuchung werden auf der Ebene der Regional- und Landesgeschichte im Raum Fulda wichtige Zusammenhänge deutlich. Auch kann mit der Siegelpraxis in der Frühzeit des Stiftes eine wichtige Nähe zum Erzbistum Mainz nachgewiesen werden, was in der (berechtigten oder nicht berechtigten) Siegelführung des Stiftspflegers im 12. Jahrhundert Rechtsicherheit versprach. Dass sich dieser Sachverhalt in der späteren Zeit ändert und die zentralen Stiftsheiligen Bonifatius, Simplicius und Faustinus im Mittelpunkt der Siegelführung stehen, zeichnet die Entwicklung des Stiftes zu einer der wohlhabendsten kirchlichen Institutionen des Reiches nach. Insgesamt zeigt der Verfasser, dass die Siegelpraxis der Stiftspfleger stets eine kooperative Zusammenarbeit mit der Stiftsleitung präsentierte und damit eine einheitlich, legitime und verlässliche Landesadministration möglich machte.
Nun seien auch einige Monita angeführt. Neben kleineren Petitessen (unorthodoxes Archivkürzel »LNRWAW« für LAV NRW W) vermisst die weniger mit dem Fuldaer Stift vertraute Leserschaft eine Art Einführung in die zeittypischen Verhältnisse und die angedeuteten Krisen (ferner: Was ist ein Stiftspfleger? Warum war die Stiftsleitung auch in Fulda »regierungsunfähig«?). Hinsichtlich des Begriffs »Siegelpraxis« bleibt die Chance ungenutzt, an die jüngsten praxeologisch ausgerichteten Forschungen zur Schriftkultur jenseits der Sphragistik anzuknüpfen, sie zu diskutieren, sich abzugrenzen oder sie auch nur zu erwähnen.4 Wenn Götte betont, dass die »alleinstehende Betrachtung der Siegel […] nicht das Ergebnis, sondern den analytischen Ausgangspunkt zur Bewertung ihres (kombinierten) diplomatischen wie soziokulturellen Wirkens« bildet und dies als »inhaltlich wie methodisch innovatives Verfahren innerhalb der Sphragistik und Diplomatik« versteht (jeweils S. 4), spricht dies nicht für die Aktualität der sonst gängigen Methodik beider Forschungsbereiche. Generell hätte man sich den angehängten, intensiv ausgearbeiteten Katalog auch elektronisch vorstellen können. Gerade Siegel bieten in ihrer bei aller Unterschiedlichkeit des Motivs gleichförmigen Struktur für eine Auswertung mit Methoden der Digital Humanities eine gute Vorlage. Diese Forderung richtet sich allerdings nicht nur an die vorliegende Arbeit, sondern trifft auch Vorgänger und Nachfolger, die sich im Rahmen der Sphragistik oder auch im Rahmen der Numismatik mit Objektkatalogen und Reihenuntersuchungen auseinandersetzen wollen.
Diese genannten Punkte sollen jedoch den Wert nicht schmälern, den das Werk für die Landesgeschichte und die Sphragistik für einen langen Zeitraum haben wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Antje Diener-Staeckling, Rezension von/compte rendu de: Daniel Götte, Die Siegelpraxis der Fuldaer Stiftspfleger (1011–1531), Darmstadt, Marburg (Selbstverlag der Hessischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission für Hessen) 2023, IX–517 S., 2 Tabellen, 118 farb. Abb. (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 193), ISBN 978-3-88443-348-5, EUR 34,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109373





