Was zeichnet »den mittelalterlichen Händler« – sofern es ihn gab – aus? Welche Wertvorstellungen prägten das Handeln mittelalterlicher Kaufleute? Wie gestalteten sich ihre ökonomischen, sozialen und politischen Handlungsspielräume im späten Mittelalter? Wie waren sie eingebettet in die Gesellschaft? Diese großen Forschungsfragen beantwortet die Studie von Laure-Hélène Gouffran anhand der Überlieferung zu zwei – bis dato als ein und dieselbe Person gedeuteten – Kaufleuten gleichen Namens: Bertrand Rocafort de Mimet aus Marseille sowie sein (in keiner Weise verwandter) Namensvetter Bertrand Rocafort aus dem ca. 80 km entfernten Hyères. Zunächst entflicht die Autorin dieses Missverständnis gekonnt, indem sie akribisch die Biographien der beiden »hommes nouveaux« in den ersten zwei Kapiteln des Buchs rekonstruiert. So erfahren wir vom Aufstieg des kinderlosen Kleinhändlers (Kurzwaren, Lebensmittel, Stoffe), Stadtbuchhalters und Notars Bertrand Rocafort aus Hyères (verstorben 1427 in Marseille), der 1423 das Bürgerrecht in Marseille erwarb und damit den Zenit seines Schaffens erreichte. Er vermachte seinen Besitz dem Hospital des Klosters Saint-Esprit, nachdem er seine zweite Ehefrau testamentarisch abgesichert hatte. Auf der anderen Seite lernen wir den aus Marseille stammenden drapier Bertrand Rocafort de Mimet (gestorben 1428) kennen, der zusammen mit zwei Geschäftspartnern in dem als Butiga Magna bekannten Geschäft diverse Luxusgüter (Stoffe, Gewürze, Korallen, Wachs, etc.) mit Gewinnmargen zwischen 10 und 15 % verkaufte und im Laufe seines Lebens zum Ratsmitglied und Richter in der Stadt aufstieg. Sein Erfolg reichte gerade zwei Generationen weiter – die Familie versank mit der Enkelgeneration in der Bedeutungslosigkeit.
Gouffran zeigt hier überzeugend und auf spannende Art auf, wie zwei typische Vertreter der merkantilen Schicht in ihrem durchaus von politischen und sozialen Umbrüchen (Überfall und Belagerung der Stadt 1423 durch Alfons von Aragon, Plünderungen der Stadt durch Piraten) geprägten lokalen Umfeld wirkten und arbeitet die interessante Vielschichtigkeit dieser Multifunktionäre heraus, deren Schaffen von einer Bandbreite ökonomischer, sozialer und politischer Aktivitäten gekennzeichnet war. Sie tut dies vergleichend und mit mikrohistorischem Zugriff anhand von 28 überlieferten Quellenkonvoluten des so genannten Fonds Roquefort aus dem Stadtarchiv von Marseille (bestehend aus Verträgen, Quittungen, Testamenten, Briefen und Rechnungsbüchern) und reichert dieses Corpus durch weitere Quellen aus umliegenden Archiven an.
Dem ersten biographischen Teil der Studie folgt der zweite Teil, der vergleichend auf die Analyse gemeinsamer Muster beider Biographien (und darüber hinaus) abzielt: auf die endogamen sozialen und familiären Strukturen, darunter die gleichbleibend essentielle, da kapitalmobilisierende Bedeutung von Heiratsbündnissen (Kapitel 3), die religiöse Mentalität der Händler (Kapitel 4) sowie ihr Wirken in der Stadtgesellschaft (Kapitel 5). Diese Kapitel gehen erzählerisch in die Breite und beleuchten die Familienmitglieder (Ehefrauen, Kinder, Geschwister, etc.) sowie das soziale Umfeld einschließlich der Geschäftspartner, Beichtväter und Freunde beider Akteure. Die Grenzen zwischen beiden Individuen verschwimmen in diesen Kapiteln des Buchs zugunsten einer Erzählung über das »Milieu spätmittelalterlicher Händler« in der Provence am Ende des 14. Jahrhunderts.
Die Großthemen dieses ebenfalls inspirierenden Teils sind zum einen die spätmittelalterliche christliche Wirtschaftsethik, die stark durch enge Kontakte zwischen Händlern und Mendikanten (insbesondere Franziskanern) geprägt war. Gouffran gelingt es, die oft unscharfen Beziehungen und Austauschprozesse zwischen den Franziskanern und beiden Kaufleuten zu greifen: Die Minderbrüder erscheinen als Testamentsverwalter, Zeugen und enge Bezugspersonen (Freunde, teils gar Verwandte) der Rocaforts. Diese hingegen werden als Kreditoren und Prokuratoren der Franziskaner in den Quellen sichtbar. Die Autorin zeigt überzeugend auf, dass das Gemeinwohl (bonum commune) das Hauptleitmotiv der Händler war. Der Einsatz für die Stadtgemeinschaft erfolgte dabei durch die Einspeisung des Kapitals der Händler in den Wirtschaftskreislauf (durch Verträge und Investitionen) und in karitative Einrichtungen sowie durch ihr ganz konkretes politisches Handeln als Teil der Stadtverwaltung (als Ratsmitglied und Notar). Es wird deutlich, dass die in den Jahrhunderten zuvor argwöhnisch betrachteten Händler am Ende des 14. Jahrhunderts vollauf in die Gesellschaft integriert waren – sie sogar in Schlüsselpositionen leiteten.
Der gute Ruf (bona fama) galt beiden Kaufleuten als Teil der Stadtelite dabei als hohes Gut. Erreicht werden konnte sie durch zahlreiche wohltätige Stiftungen und Spenden an Hospitäler zu Lebzeiten und darüber hinaus. Das Wissen der Gemeinschaft um das karitative Engagement der Händler war eine wichtige Basis des Ansehens der Rocaforts. Die häufig in der Forschung propagierte ambivalente Mentalität der Händler scheint aufgelöst, betrachtet man den Einsatz der Rocaforts für das bonum commune. Dieses war – so die These des Buchs – keine reine gesellschaftspolitische Theorie. Vielmehr war das bonum commune eine Gesamtheit gesellschaftlicher Aufgaben und Verhaltensweisen. Hinzu kam eine tiefe Frömmigkeit der Kaufleute und ihrer Familien, sichtbar in den Devotionalien, religiösen Bildern und Büchern, die sie besaßen. Der nachgewiesene private Besitz von Devotionalien, religiösen Bildern und Büchern lässt ebenfalls Rückschlüsse auf die tiefe Frömmigkeit der Kaufleute und ihrer Familien zu, ebenso wie das Spenden von Kleidungsstücken an religiöse Einrichtungen, die zu liturgischen Gewändern umgewandelt werden sollten. Die Fruchtbarkeit des Zugriffs der material culture studies für diese Fragestellung wird durch diese Studie erneut herausgestellt.
Resümierend gefasst beschreibt und analysiert die Studie von Laure-Hélène Gouffran gekonnt die Multifunktionalität der Kaufleute in der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft. Kaufleute waren Experten des Geldes und der Buchführung, der Kommunikation und Verwaltung, die ihr Wissen, ihr soziales Kapital und ihren materiellen Wohlstand gezielt für ihren persönlichen Aufstieg, der nur in Einklang mit oder eben als Ausdruck des bonum commune erreichbar war, zu nutzen wussten. Vielseitigkeit und Kalkül sowie ein aktives Leben in der Stadtgemeinschaft waren die prägenden Elemente der Biographien beider Bertrands Rocaforts. Es gelingt der Autorin somit auf beeindruckende Weise zwei zeittypische Vertreter einer in sich durchaus diversen sozialen Klasse (des vir nobilis mercator Bertrand de Rocafort de Mimet und des Aufsteigers Bertrand Rocafort aus Hyères) und ihr Umfeld sichtbar und lebendig werden zu lassen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Tanja Skambraks, Rezension von/compte rendu de: Laure-Hélène Gouffran, Être marchand au Moyen Âge. Une double biographie. Marseille, XIVe–XVe siècle. Préface de Philippe Bernardi, Paris (CNRS Éditions) 2023, 344 p., ISBN 978-2-271-14616-8, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109374