Mit der hier vorzustellenden Edition der Wurm’schen Glosse ist ein seit 1994 währendes Projekt an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, die eine Forschungsstelle der Monumenta Germaniae Historica (München) beheimatete, zum Abschluss gekommen: die Edition der zum Sachsenspiegel verfassten spätmittelalterlichen Glossen. Zum Landrechtsteil des Sachsenspiegels sind zwei Editionen erschienen, nämlich zunächst diejenige der weit verbreiteten Buch’schen Glosse (3 Bände, 2002; Glossar hierzu: 3 Bände, 2015); dann, mit größerem zeitlichem Abstand, die Edition der seltener bewahrten Petrinischen Glosse (3 Bände, 2021). Drei Glossenkompositionen zum Lehnrechtsteil des Sachsenspiegels liegen nun ebenfalls als Edition vor, nämlich die kürzere Glosse (2 Bände, 2006), die längere Glosse (3 Bände, 2013) sowie die hier anzuzeigende Wurm’sche Glosse (2 Bände, 2024). Der Arbeitsstellenleiter und damit das eigentliche »Gesicht« des Projekts, Frank-Michael Kaufmann, kann damit auf einen erfolgreichen Abschluss seiner nun 30-jährigen Editionstätigkeit an der Grenze von gelehrtem und sächsischem Recht zurückblicken.1

Zum Lehnrecht des Sachsenspiegels sind drei wichtigere Glossen bekannt, nämlich zunächst die kürzere Glosse mit zehn Handschriften (die wiederum in drei »Ordnungen« zerfallen), sodann die längere Glosse mit recht homogener Überlieferung in 18 Handschriften sowie schließlich die Wurm’sche Glosse (und zudem eine als Stendaler Glosse bekannt gewordene deutsch-lateinische Glossierung). Die Wurm’sche Glosse ist nur in einer Handschrift sowie zwei Fragmenten (die ursprünglich eine Handschrift waren, die schon in der Frühen Neuzeit zerlegt wurde), überliefert. Es handelt sich also de facto um einen textus unicus. Die maßgebliche Handschrift – heute: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, 392 – ist wohl auf 1386 zu datieren und war lange Zeit in der schlesischen Stadt Liegnitz aufbewahrt. Die beiden Fragmente (heute in Görlitz und Prag) sind zeitgleich und weisen auf Görlitz als Entstehungsort hin.

Die drei verschiedenen Lehnrechtsglossen sind eng miteinander verwandt. Kaufmann vermutet, dass die längere Glosse – immerhin doppelt so lang wie die kürzere – die ursprüngliche Glosse ist, die dann gekürzt wurde und in die drei Ordnungen der kürzeren Glosse mündete (die erste Ordnung der kürzeren Lehnrechtsglosse datiert auf 1410, dem Entstehungsjahr der Jenaer Handschrift). Zugleich bearbeitete Nikolaus Wurm diese längere Glosse und erweiterte sie vor allem um gelehrt-rechtliche Zitate.

Wer war der Autor, Nikolaus Wurm? Geboren wurde er vor 1350 in Neuruppin, gestorben ist er nach 1401. Er hat in den 1370er-Jahren in Bologna die Rechte studiert, und zwar wohl bei Giovanni da Legnano (gestorben 1383), dem berühmten Kanonisten, der unter anderem zu Interdikt und Exkommunikation Traktate verfasste. In den sächsischen Raum zurückgekehrt, ist Wurm in der Stadt Görlitz nachweisbar, für die er Rechtshandschriften erstellte; 1401 erhielt er eine Leibrente vom Görlitzer Rat. Wurm ist Verfasser der vorliegenden Glosse zum Sachsenspiegel-Lehnrecht und – wohl auch – Autor der Blume des Sachsenspiegels und des Liegnitzer Rechtsbuchs; vielleicht hat er auch eine heute verschollene Glosse zum Sachsenspiegel-Landrecht verfasst und weitere Werke zum sächsischen Recht. Selbst wenn nur ein Teil der Zuschreibungen stimmt: Nikolaus Wurm war ein Kenner des sächsischen wie des gelehrten Rechts, der beide Rechtswelten verband.

Im Vergleich der drei Glossen zueinander, so stellt Kaufmann fest, ist die Wurm’sche Glosse die gelehrteste, führt sie doch gelehrt-rechtliche Zitate am häufigsten an und bringt diese auch teils als Zitat (und allegiert diese nicht nur). Es handelt sich insgesamt um eine »komplexe Um- und Überarbeitung der längeren Lehnrechtsglosse« (XXXV). In den Jahrzehnten um 1400, so darf man also aufgrund des Entstehens der kürzeren Glosse wie der Wurm’schen Glosse konstatieren, muss ein größeres Interesse am Lehnrecht des Sachsenspiegels bestanden haben.

Was bietet die Edition inhaltlich? Lehnrecht ist ein Teilbereich der mittelalterlichen (Rechts)Geschichte, der zwar immer wieder Beachtung fand und nach wie vor findet, wenn er auch keinen Schwerpunkt der rechtshistorischen Forschung bildet. In den letzten gut zehn Jahren ist neben Schildgeld und Heersteuer von Carsten Fischer (2013) vor allem die Studie von Maike Huneke zur Iurisprudentia romano-saxonica (2014) erschienen, in der sie sich intensiv mit den Glossen zum Sachsenspiegel-Lehnrecht beschäftigt. Vor allem aber ist durch die Studie von Susan Reynolds Fiefs and Vassals (1994) viel Bewegung in die Lehnrechtsforschung geraten: Lehnrecht scheint sich im europäischen Mittelalter durch regionale Unterschiede auszuzeichnen, so dass das eher statische Modell – beispielsweise von François Louis Ganshof (Qu’est-ce que la féodalité? erstmals 1944) – hinterfragt wurde. Eine neue allgemein akzeptierte Meinung scheint sich aber noch nicht herausgebildet zu haben.

Ob die Neuedition der Wurm’schen Glosse zu dieser Diskussion unter (Rechts)Historikern beitragen kann? Sicherlich. Auf jeden Fall aber kann sie ein besseres Verständnis des Lehnrechts in Sachsen befördern – und zur Rezeption des gelehrten Rechts im lateinischen Abendland. Denn die mustergültige Edition von Kaufmann weist im Register Namen und vor allem Quellen nach: Das Corpus iuris civilis (mit Digesten, Codex und Accursischer Glosse neben anderen Werken) ist ebenso verzeichnet wie kanonistische Werke, zu denen das Decretum Gratiani, der Liber Extra und der Liber Sextus zählen. Wie in spätmittelalterlichen Werken wie der Glosse von Nikolaus Wurm das kanonische Recht mit dem sächsischen Recht verflochten wurde, ist eine Frage, die den Rezensenten immer wieder umtreibt. Ob jemand darauf jetzt eine Antwort geben kann?

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stephan Dusil, Rezension von/compte rendu de: Frank-Michael Kaufmann (Hg.), unter Mitarbeit von Matthias Witzleb, Glossen zum Sachsenspiegel-Lehnrecht. Die Wurm’sche Glosse, 2 Bde., Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2024, LXXIV, VIII–752 S., 16 Abb. (MGH Fontes iuris N. S., 12), ISBN 978-3-447-12240-5, EUR 150,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109378