Die anzuzeigende Studie, in die eine Wiener Diplom- und Doktorarbeit eingegangen sind, beansprucht, die innere Vielfalt der sich explosiv entfaltenden apokalyptischen Deutungen der frühen Reformation quasi kaleidoskopartig darzustellen. In den ersten drei Kapiteln folgt der Aufbau einer gewissen chronologischen Logik (1: frühe Reformation, bes. Martin Luther, Thomas Müntzer, Melchior Hoffman; 2: Osmanische Herausforderung; 3: Welt- und Zeitkonzepte, bes. Rothmann und das Münsteraner Täuferreich). Das vierte Schlusskapitel traktiert in systematisierender Perspektive Methoden von Offenbarung und Konzepte ihrer Vermittlung.
Einleitend konstatiert die Verfasserin, dass die Apokalyptiker in aller Regel über einen epistemologischen Elitarismus verfügten, der es ihnen erlaubte, die eigene heilsgeschichtliche Position, aber auch die der Gegner, zu identifizieren. Die Opposition von exklusiv schriftbezogener Zukunfts- und Geschichtsschau und »schwärmerischer« Inanspruchnahme weiterer Offenbarungsquellen dient Feik zur Strukturierung des Untersuchungsfeldes. Die Inanspruchnahme Foucaults für die Analyse von Bedeutung, Normen und Machtmomenten des apokalyptischen Diskurses erweist sich im weiteren Duktus der Arbeit als irrelevant. Kriterien der Quellenauswahl des ziemlich »deutsch« verengten Reichs (bis 1545, warum?) bleiben – ungeachtet der an sich sinnvollen Fokussierung auf exegetische Texte – unklar. Stimmen aus dem sich seit der Mitte der 1520er-Jahre formierenden reformierten Lager fehlen völlig. Die Forschungsanalyse ist in Bezug auf die Proportionen unausgewogen, die Ausführungen zu Münster dominieren unangemessen stark. Die insbesondere für die Dissoziationsprozesse der sächsischen Reformation zentralen Forschungsarbeiten Bubenheimers, aber auch Joestels und Krentz’, werden nicht rezipiert. Auch in Bezug auf das frühe apokalyptische Täufertum fehlen wichtige Protagonisten. Apokalyptische Intensitätsschübe im Zusammenhang der Publizistik des Bauernkriegs sind Feik gleichfalls unbekannt. Anlage, Methodik und Quellenauswahl der Studie überzeugen nicht.
Kap. 1 rückt zu Recht Luther und Wittenberg ins Zentrum; die Erkenntnis, dass der Papst der Antichrist sei, wurde seit 1519/20 zum Dreh- und Angelpunkt des geschichtstheologischen Denkens. Freilich wäre in Bezug auf die Kriteriologie der Antichristprädikation bei Luther eine präzise mikrokontextuelle Analyse des zweiten Drittels des Jahres 1520 ergiebiger gewesen. Die kursorische Behandlung – meist Paraphrase – einzelner Texte bleibt oberflächlich; dass die Verfasserin die Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« in diesem Zusammenhang übergeht, ist inakzeptabel. In Bezug auf das »Schriftprinzip« postuliert Feik eine »Reinheit«, die es für Luther nie gab, denn gänzlich auf die Allegorese verzichten konnte und wollte er nie. Eine längere Forschungsreminiszenz an das Konzept der »reformatorischen Öffentlichkeit« wirkt deplatziert und anachronistisch. Die Ausführungen zum »Passional Christi und Antichristi« und zum Bilderzyklus zur Apokalypse im NT von 1522 bleiben hinter dem Feik nicht bekannten Diskussionsstand zurück. Ausgehend von dem v. a. von Andreas Osiander verfassten Nürnberger Ratschlag arbeitet Feik freilich zutreffend heraus, dass die Antichristologie und das Verständnis der Weltgeschichte bei den Lutheranern im Wesentlichen am Danielbuch (Vier-Monarchien-Lehre; Petrusamt nach 2 Thess 2 als Antichrist; kleines Horn aus Dan 7 seit den späten 1520er-Jahren auf das Osmanische Reich bezogen) orientiert war. Die Entwicklung von Luthers Verhältnis zur Johannesapokalypse v. a. anhand der einschlägigen Vorreden darzulegen, ist wenig originell; überhaupt erfährt der halbwegs Kundige aus der Darstellung nichts Neues. Die Ausführungen zum frühen Thomas Müntzer ergeben in Bezug auf seine apokalyptische »Erweckung«, die Feik nicht aufgefallen zu sein scheint, jedenfalls im »Prager Sendbrief« vital ist, nichts. Die Hinweise zu Hoffman kulminieren in seinem Kommentar zu Dan 12 (1526) und der Inanspruchnahme, Offenbarungsträger zu sein. Neues zu Hoffman erfährt man gleichfalls nicht. Entscheidend wurde für ihn die Datierung des Endes auf 1533; sie ging mit der spirituellen Formierung einer Elite der Auserwählten aus dem Laienstand einher.
Kap. 2 rekapituliert Luthers historischem Wandel unterworfene Haltung gegenüber den Osmanen, wobei zunächst seine politiktheoretischen Konzepte (Drei-Stände und Zwei-Reiche/Regimente – Lehre) im Vordergrund stehen; Dan 7, Ez 38-39. und Apk 20,7-10 waren die entscheidenden Bibelstellen. Dan 7 gewährleistete die Einordnung der Gegenwart wegen der Deutung des kleinen Horns auf die Türken, der auch Melanchthon, Jonas und Brenz im Wesentlichen verpflichtet blieben. Die Bedeutung der syrischen (Ps.)-Methodius-Apokalypse auch für die Tradierung der Alexanderlegende und die Überlieferung von den »roten Juden« wird von Feik zutreffend benannt; deren Rolle bei der apokalyptisch konnotierten Vitalisierung des Judendiskurses um 1523/1524 ist ihr hingegen unbekannt. Wenig konturenscharf bleibt die Wittenberger Wahrnehmung der Türken auch deshalb, weil die Verfasserin den ethnografischen Motivstrang (insbes. Georg von Ungarn) nicht einbezieht.
Kap. 3 stellt zunächst anhand der von Melanchthon bearbeiteten Chronik Carions dar, dass biblische Welt- und Heilsgeschichte in der Wittenberger Tradition eng verknüpft waren, nach der Vier-Monarchien-Lehre strukturiert wurden, geschichtliches Wissen aufgewertet und für politische Herrschaft genutzt werden sollte. Aufschlussreich sind die Berechnungen Stifels, Hoffmans (beide 1533) und Osianders (spätes 17. Jh.), die erhebliche Dissonanzen in der Auslegung zentraler biblischer Texte hervortreten lassen und die Breite des Deutungsspektrums im reformatorischen Lager erkennen lassen. Doch für wen ist das eigentlich überraschend?
In dem bes. ausführlichen und hinsichtlich der Kenntnis des Forschungsstandes im Ganzen kundigen Abschnitt über das »Münsteraner Täuferreich« setzt Feik m. E. zu selbstverständlich voraus, dass in der westfälischen Metropole v. a. Vorstellungen Hoffmans zur Wirkung gelangten (184 u. ö.). Signifikante Differenzen zwischen Münster und Hoffman (Aussetzung der Taufe; Terminierung des Endes; Straßburg als »neues Jerusalem«; 1000 Jahre aus Apk 20 nicht prämillenaristisch, sondern historisch gedeutet; Absenz der Restitutionskategorie etc.) könnten Anlass geben, die Verbindung weniger eng zu sehen. Rothmanns Entwicklung und den Gang der Reformation in Münster zeichnet Feik gemäß der einschlägigen Literatur (Kirchhoff, Klötzer, Laubach, Lutterbach, Kuratsuka, Peters) nach; eigene neue Erkenntnisse oder doch wenigstens eine Fokussierung auf die apokalyptische Thematik findet sich über weite Strecken der Darstellung nicht. Dass Rothmann die Aussage, dass die eigene Gegenwart die letzte Zeit ist, exegetisch aufwändig darlegt, arbeitet Feik allerdings recht gründlich heraus. Zur Inszenierung Münsters als »neues Jerusalem« scheint Rothmann nichts beigetragen zu haben.
Kap. 4 rückt die Opposition Luthers gegen die Schwärmer, die von Feik – ohne weiteren Erkenntnisgewinn! – mit der von Derrida aufgenommenen Kritik Kants an mystagogischer Schwärmerei in der Philosophie seiner Zeit analogisiert wird, ins Zentrum. Gewiss – »Schwärmerei« ist mit epistemologischen Überbietungs- und Überwältigungsgesten verbunden. Doch wann, unter welchen Bedingungen, in welchen Konstellationen, mit welchen Strategien sie zum Tragen kamen und diverse »Methoden« – klare Schrift allein; Zeichen und Wunder wie etwa Monstra; Endzeitberechnungen; spiritualistische Geistesgegenwart; Prophetie; apokalyptische Inszenierungen – aufgriffen und kombinierten –, all das interessiert Feik nicht weiter. Ihr Anliegen beschränkt sich offenbar darauf, die Vielfalt der reformatorischen Umgangsweisen mit der Endzeit vorzuführen. Von den kontextuellen Rahmenbedingungen des apokalyptischen Diskurses, der sich vor, während und nach dem Bauernkrieg erheblich verschob, sieht diese sich selbst als »kulturgeschichtlich« bezeichnende Studie völlig ab.
In »handwerklicher« Hinsicht ist manches im Argen: Die Verfasserin macht keinerlei Gebrauch vom VD 16, dem wichtigsten bibliografischen Referenzwerk zum deutschen Sprachgebiet im 16. Jahrhundert. Fragen nach der Verbreitung (quantitativ; geografisch; in Übersetzungen etc.) der von ihr behandelten Texte und Holzschnitte spielen keine Rolle; präzise historische Kontextualisierungen einzelner Quellen unterbleiben. Zu einigen Schriften vorhandene kritische Editionen (etwa zu Stifel, Brenz) kennt und benutzt sie nicht. Einzelne Fehlurteile – z. B. Daniel sei Luthers »Lieblingsprophet« (4; 29); das »Patmos« für Luthers Wartburgaufenthalt (17) sei wichtig (faktisch war es zeitgenössisch annähernd unbekannt!); Foucaults von Unkenntnis getrübte Generalperspektive auf die Reformation sei quasi kanonisch (22); Luthers Warum des Papst … Bücher … verbrannt fordere zu Bücherverbrennungen andernorts auf (30); die Responsio gegen Catharinus habe als zweiter Teil von De captivitate Babylonica zu gelten (38); Bugenhagen heiße »Andreas« (64); Melanchthon habe Müntzer 1517 in Wittenberg getroffen (70); Münster sei nur bis Mitte des 15. Jahrhunderts Mitglied der Hanse gewesen (146) – oder fragwürdige Begriffsentscheidungen (»Polygynie« [ab 177] in Münster statt des sachgerechten, traditionellen Terminus »Polygamie«) illustrieren, wie es um Teile der gegenwärtigen allgemeinhistorischen deutschsprachigen Reformationsgeschichtsforschung steht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Kaufmann, Rezension von/compte rendu de: Catherine Feik, Apokalyptische Gegenwarten. Endzeitdenken reformatorischer Bewegungen zwischen Exegese, Kirchenkritik und Vision, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2023, 288 S., 12 Abb. (Cultural History of Apocalyptic Thought/Kulturgeschichte der Apokalypse, 5), ISBN 978-3-1107-9398-7, EUR 79,95., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109492





