Aus der Geschichte des deutschen Nationalbewusstseins und der Entstehung von Nationalstaat und Imperialismus im 19. Jahrhundert ist der enge Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dynamiken bekannt. Doch wie gestaltete sich der Zusammenhang zuvor im Rahmen der globalen, auch kolonialen Verflechtung und »imperialen« Konstruktion des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation? Dieser Frage geht Indravati Félicité in der Monografie »Le Saint-Empire face au monde« nach. Während »frühneuzeitliche Imperien« und »europäische Expansion« vorwiegend am Beispiel anderer Mächte1 oder aus europäischer Perspektive untersucht, dabei mitunter nach Maßstäben von »Erfolg« und »Scheitern« betrachtet werden,2 wählt Félicité eine Kombination aus ideen-, diskurs- und kulturgeschichtlichen, teils auch verfassungs-, wirtschafts- und diplomatiegeschichtlichen Perspektiven auf die Bezüge des Alten Reichs »zur Welt« in der gesamten Frühen Neuzeit.
Die Darstellung gründet auf der Verbindung eines variablen Welt(en)begriffs3 mit dem Schlüsselbegriff des Imperiums, einschließlich seiner diversen semantischen Schichten und seiner besonders im französischen Adjektiv impérial bestehenden Mehrdeutigkeit (kaiserlich, das Alte Reich betreffend, ein Imperium betreffend; 17, 28). Hervorzuheben ist der programmatische Anspruch, Räume, Forschungsthemen und Erkenntnisse (33) der politischen Geschichte des Alten Reichs stärker zu verknüpfen.
Der Hauptteil gliedert sich in drei Teile zu jeweils drei Kapiteln, welche grob chronologisch vorgehend drei Leitgedanken behandeln: Kenntnis und Auffassung der Welt, Begegnung und Positionierung zum Äußeren und Einbindung des Reichs in globale Entwicklungen (29). Der erste Teil widmet sich ausgehend vom berühmten Appel Enea Silvio Piccolominis aus dem Jahr 1454 zur Vereinigung im Kampf gegen die Osmanen den Verbindungen zwischen »refondation impériale« (Reichsreform und Reformation) und Umbruch im »Orient«. Hier äußert sich das dynamische imperiale Verständnis, das das Heilige Römische Reich deutscher Nation der Neuzeit als System auffasst, das fortlaufend aus dem Zusammenwirken seiner Subsysteme gebildet und erneuert werde (14). Die »Türkenrede« wird als Ausgangspunkt eines imperialen geopolitischen Diskurses interpretiert, der von deutschsprachigen Gelehrtenzirkeln, Publikationen und Händlern fortgeführt werde und in Reichstagsdebatten aus der Zeit der Reformation und des Reichsregiments sowie einer Omnipräsenz des Orientbegriffs (59) seinen Niederschlag finde. Detailliert wird die Entwicklung des Persienbildes als Teil einer Geopolitik des Orients beschrieben, in der die Perspektive des gemeinsamen Kampfes gegen die Osmanen von entscheidendem Interesse war und zu diplomatischen Kontakten in den 1520er‑Jahren führte. Kaisernahe Verleger wie Wolfgang Stöckel und Humanisten wie Konrad Peutinger verbreiteten ein Bild der Welt, das zur Stärkung des Universalanspruchs unter Maximilian I. herangezogen wurde. Dabei prägten die kosmografischen Publikationen Sebastian Francks und Sebastian Münsters mitunter bis ins 17. Jahrhundert das Bild dieser Welt. Ab 1600 wird eine diplomatische Beschleunigung und transimperiale Beziehung zu Persien festgestellt, die am Beispiel der Reise des persischen Gesandten Husein Ali Beg und des Engländers Anthony Sherley von Emden über Kassel nach Prag zu Kaiser Rudolf II. und der folgenden Gegengesandtschaft beschrieben wird. Der 1608 gedruckte Bericht der kaiserlichen Gesandtschaft (Iter Persicum) wird als Brücke von den humanistischen Persienschriften, die noch von antikem Wissen geprägt waren, zu einem neuen Persienbild dargestellt. Dieses erweitere sich mitten im Dreißigjährigen Krieg durch die »Subdiplomatie« Friedrichs III. von Schleswig-Holstein-Gottorf in Form einer Gesandtschaft, deren Berichte nicht nur den transimperialen Verbindungsweg vom Mittelmeer auf die Route über das Moskowiterreich verlagern, sondern auch das Persienbild durch kulturelle und literarische Rezeption (z. B. Übersetzung des Rosengartens [Golestan]) erneuern. Die Persiendiplomatie Gottorfs wird unter den »nouveaux lieux de cristallisation de la politique impériale germanique« eingeordnet, aber auch als punktuelle Erfahrung von Fürsten auf der Suche nach Referenzpunkten, nach politisch effizienteren und moralischen Vorbildern für die materielle, politische und moralische Rekonstruktion des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation nach dem Dreißigjährigen Krieg. Diese Schlussfolgerung wird allerdings – abgesehen vom Verweis auf die Suche der Lutheraner nach christlichen Idealbildern unter der mythischen Herrschaft des Priesterkönigs Johannes in Äthiopien – nicht weiter vertieft (160).
Der zweite Teil wendet sich der Charakterisierung und Kontextualisierung des Alten Reichs als Imperium zu und greift Forschungserkenntnisse zu Grenz- und Kontakträumen von Imperien auf, bevor der Norden des Reichs und die Hansestädte in den Fokus rücken. Auseinandersetzungen zwischen der Grafschaft Ostfriesland, der Stadt Emden und dem Kaiser zu Bedingungen der Grenzkontrolle werden als Teil imperialer Grenzdynamik dargestellt. In diesen Zusammenhang werden auch Marine-Ambitionen unter Maximilian I. bis hin zur Ernennung Wallensteins zum General des Ozeanischen und Baltischen Meeres im Dreißigjährigen Krieg gestellt. Hier macht sich die nötige Selektion bemerkbar, wenn die Bedeutung von Grenzen zu direkten Nachbarn wie Frankreich und der Grenzraum zum Osmanischen Reich nicht weiter thematisiert werden und die bis zum Ende des Reichs umstrittene Bedeutung des Burgundischen Reichskreises sowie Reichsitaliens außer Betracht bleiben. Stattdessen geht die Darstellung über in verfassungsgeschichtliche Ausführungen der ständischen Rechte bzw. teutschen Freiheit sowie der Bedeutung von Wahlkapitulationen und Avokatorien als »Stimme« (213) und Form einer »Exekutivgewalt« (239) des Kaisers. Diskutiert wird auch die Entwicklung des Universalgedankens zwischen der Nivellierung durch konkurrierende europäische Mächte wie Frankreich und Schweden einerseits und der Akzeptanz ferner Kaisertitel in der Reichspublizistik andererseits (z. B. Mogulreich, Japan, China).
Der dritte Teil thematisiert die Integration des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation in globale Handels- und Kolonialentwicklungen im 18. Jahrhundert. Erläutert werden Bemühungen zur Schaffung einer Handelskompanie zwischen den Hansestädten und Spanien, auch Brandenburgs Bemühungen in Westafrika oder Leibniz’ Überlegungen zur Beteiligung des Reichs am Welthandel. Dem gegenüber steht ein kolonialkritischer Blickwinkel von Vertretern der Kameralwissenschaften, der ausführlich anhand der Kritik Johann Heinrich Gottlieb Justis am Monopolstreben der Handelskompanien und am rücksichtslosen und brutalen Vorgehen der Europäer gegen andere Völker erläutert wird. Die Ostende-Kompanie Karls VI., die nach ihrer Auflösung in Teilen nach Hamburg verlagert wird, und die Ostindische-Kompanie in Triest werden als Beispiele »transimperialer Räume« angeführt. Am Beispiel Benjamin Franklins wird im Epilog unter anderem gezeigt, wie die Wahrnehmung des Reichs als einzigartiges Gebilde sich zu einer Inspirationsquelle für die Neugestaltung der Beziehungen zwischen der britischen Krone und den amerikanischen Kolonien entwickeln konnte.
Der hauptsächlich ideen- und diskursgeschichtlich angelegten Monografie gelingt es, ein differenziertes und facettenreiches Bild der globalen Bezüge, Wahrnehmungen und Wechselwirkungen des Alten Reichs und ihrer jeweiligen Auswirkungen auf dessen »Imperialität« zu zeichnen. Aus der betrachteten Publizistik, den diplomatischen Kontakten und kulturellen Rezeptionsprozessen werden pointiert Rückschlüsse gezogen. Mit ihrem Zuschnitt und der Fokusverschiebung in den Hauptteilen ist die Darstellung notwendig selektiv. Beispielsweise drängt sich angesichts der ersten Abbildung (zwischen 160 und 161) grundsätzlich die Frage nach Zusammenhängen zur Repräsentation imperialer Vorstellungen in Druck, Kunst und Architektur auf. Falsch dargestellt wird, dies sei am Rande erwähnt, der Zweite Wiener Vertrag von 1731 mit der Angabe, Art. 2 habe die Pragmatische Sanktion nicht nur an das österreichische Erbe, sondern auch an die Thronfolge auf dem Kaiserthron gebunden (322).4
Insgesamt leistet Félicité einen wichtigen Beitrag zur Globalgeschichte des Alten Reichs und ergänzt mit ihrem Schwerpunkt auf außereuropäischen Gegenden zu Recht die Darstellung eines Reichsgebildes, dessen Merkmale sich eben bei weitem nicht in Zerrissenheit, Kleinstaaterei und in der Auseinandersetzung mit europäischen Nachbarn erschöpften.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Florian Pfeiffer, Rezension von/compte rendu de: Indravati Félicité, Le Saint-Empire face au monde. Contestations et redéfinitions de l’impérialité, XVe–XIXe siècle, Paris (CNRS Éditions) 2024, 456 p., ISBN 978-2-271-14631-1, EUR 27,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109493