»Rampen – Katastrophen«: So überschreibt die an der Universität Nijmegen lehrende Literatur- und Kulturhistorikerin Lotte Jensen ihre »neue Geschichte der Niederlande«. Ihr Augenmerk richtet sich auf Katastrophen ganz unterschiedlicher Art: Überflutungen, Stürme, Epidemien, Brand- bzw. Explosions-, Schiffs-, Flugzeug- oder Zugunglücke. Ihre Monografie ist dabei chronologisch aufgebaut: Nach einer Einleitung entführt sie ihre Leserschaft ins Spätmittelalter. Das erste, hier startende Kapitel fokussiert dabei den langen Zeitraum bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert. Ab dem 18. Jahrhundert wird jedem weiteren Jahrhundert ein eigenes Kapitel gewidmet. Alle beginnen dabei mit der Schilderung einer sich zugetragenen Katastrophe und den daraus resultierenden Konsequenzen, die zugleich den Bogen zum jeweiligen epochalen Denken und dem Forschungsinteresse der Autorin schlagen: Wie reagierte die Bevölkerung auf die verschiedenen Katastrophen, welche Erklärungen wurden für diese bemüht und welchen Stellenwert nahmen sie in der Erinnerungskultur ein (38)? Im Weiteren konzentriert sich jedes Kapitel auf, in der Regel, fünf Ereignisse. Sie sind auch im Inhaltsverzeichnis aufgeführt und ermöglichen der Leserschaft somit, gezielt nach einzelnen Unglücken zu recherchieren: die St. Elisabethflut (1421), die Allerheiligenflut (1570), die Pest (1636), das Delfter Schießpulverunglück (1654), die Verwüstung des Utrechter Doms (1674), die Rinderpest (1713), die Weihnachtsflut (1717), die Pfahlwurmkatastrophe (1730), das Erdbeben in Lissabon (1755), der Brand des Amsterdamer Theaters (1772), das Leidener Schießpulverunglück (1807), die Sturmflut von 1825, die Cholera (1832), die Kartoffelkrankheit (1845), der Ausbruch des Vulkans Krakatau (1883), das Fährunglück der Berlin (1907), der Hungerwinter 1944, die Überflutungen von 1953, das Zugunglück bei Harmelen (1962), das Flugzeugunglück von 1992, eine durch Feuerwerk verursachte Brandkatastrophe (2000) sowie die Corona‑Pandemie (2020).
Die Auswahl der Ereignisse erfolgte dabei ebenso nach der Rezeption, d. h. ihrer Präsenz in der heutigen niederländischen Erinnerungskultur. Von dieser zeichnen etwa spezielle Wanderwege, Schulbuchseiten, zahlreiche Denkmäler, Gedichte, Lieder, Romane, Verfilmungen etc. Auf diese Weise gelingt es Jensen, stets auch einen Bezug zur heutigen niederländischen Kultur herzustellen. Gerade die zahlreichen Abbildungen (Traktate, Gedichte, Lieder, Gedenkpfennige, Malereien: sehr bekannt das Baby in der Wiege, Denkmäler, Gedenktafeln etc.) veranschaulichen dabei diesen Gesichtspunkt gekonnt und ermöglichen auch einer nicht niederländischen Leserschaft, sich in die niederländische Kultur und ihren Umgang mit Katastrophen einzudenken. Ihre eingangs gestellte Frage, inwieweit es einen »Katastrophenkanon« (15–16) gibt, kann am Ende mit Blick auf die Rezeption und Überlieferung durchaus bejaht werden. Katastrophen beschreibt Jensen in der Einleitung so als »soziale Ereignisse«, selbst sogenannte »Naturkatastrophen« (z. B. Überflutungen, Stürme, Blitzeinschläge etc.) lassen sich in den meisten Fällen auf durch Menschen verursachte Faktoren (Rodungen, Klimawandel etc.) zurückführen (12). In der Katastrophenforschung habe sich zudem die Bezeichnung »Katastrophenkultur« etabliert: Eine positive Katastrophenkultur schaffe beispielsweise einen Rahmen, der Schadensprävention bzw. Minimierung ermöglicht, etwa durch das Ergreifen praktischer Maßnahmen (13, 43). In den Niederlanden beispielsweise existiere eine solche Katastrophenkultur im Kontext des Umgangs mit den Wassermassen (Lage an der Nordsee + Flussdelta Rhein‑Maas‑Schelde) und zeige sich u. a. in Form präventiver Bauarten (Häuser auf Pfählen, Deiche, Grachten Pumpmühlen etc.).
Die Darstellung schließt mit einem kurzen Epilog, in dem die Autorin wesentliche Entwicklungen zusammenfast. Bezüglich dieser kann sie in den einzelnen Kapiteln für den niederländischen Raum herausarbeiten, dass in der Vormoderne neben den Kriegen vor allem Brände, Überflutungen oder Epidemien die großen Katastrophen waren. Sie wurden von den Zeitgenossen auch als Plagen, bzw. als durch Gott geschickte Strafen interpretiert. Entsprechend wurde u. a. mit Prozessionen oder zusätzlichen Fasttagen reagiert (20). Auch wurde systematisch nach die jeweiligen Katastrophen ankündigenden Vorzeichen Ausschau gehalten, z. B. Kometenerscheinungen, Fehlgeburten oder Walfischstrandungen (22). Bereits sehr früh reagierten die Menschen jedoch auch mit praktischen Vorkehrungsmaßnahmen, etwa einer Verbesserung des Zugangs zum Löschwasser im Kontext von Brandsituationen oder mit Blick auf das Deichbauwesen (27). Während des 18. Jahrhunderts lassen sich laut Jensen dann drei Haltungen bezüglich Interpretation und Umgang mit Katastrophen ausmachen: erstens eine Orthodoxe, die Katastrophen nach wie vor als Strafen Gottes erkannte – etwa verbreitet durch Prediger und Publizisten; zweitens eine aufgeklärte Haltung, in der der Mensch eine weitaus aktivere Position gegenüber Gott einnahm, in der wissenschaftliche Befunde rezipiert wurden sowie die Solidarität mit den Opfern in Form organisierter Hilfsangebote einen neuen Stellenwert erhielt; und drittens ein über verschiedene Medien ästhetisierendes Betragen – Maler, Dichter und Musiker nahmen sich den verschiedenen Katastrophen an, vereinten in ihren Werken Naturkraft, Gefühle und Gott (72).
Im 19. Jahrhundert veränderte sich die »Katastrophenwahrnehmung«: Unglücke wurden zunehmend als nationale Geschehnisse erfahren, auch diesbezüglich spielten die Medien eine wichtige Rolle. Hinzukommend geriet in diesem Zeitraum vermehrt der König als »Katastrophenmanager« ins Zentrum des Geschehens, Hilfsaktionen wurden nun in einem noch viel größeren Stil durchgeführt: Wer anderen half, galt als guter Christ, wer ein guter Christ war, war ein wahrer Niederländer (129–130). Insbesondere diese Entwicklung muss vor dem sich nun auch in den Niederlanden ausbreitenden Nationalismus gesehen werden. Dieser wurde insbesondere durch den »Streit gegen das Wasser« angefeuert, er gehörte von nun an zum nationalen Narrativ und formte die »niederländische Identität« mit (130).
Seit dem 20. und noch vermehrt dem 21. Jahrhundert »profitierte« und explodierte die Verbreitung von Katastrophen durch eine sich zunehmend etablierende Boulevardpresse (auch Rundfunk, Fernsehen, später das Internet). Katastrophen kamen nun noch viel schneller und dichter zum Menschen; auch der Katastrophentourismus nahm in dieser Zeit stark zu. Zu den scheinbaren Naturkatastrophen (Überflutungen, Stürme, Blitzschläge) gesellten sich ferner technische Katastrophen (Schiffs-, Auto-, Zug- oder Flugzeugunglücke) (191). Nun wurde systematisch damit begonnen, Unglücke aufzuarbeiten, diesbezüglich waren vor allem die technischen Katastrophen ausschlaggebend. Fragen, inwieweit Menschen bei einem anderen Verhalten (Sicherheitsmaßnahmen etc.) ggf. hätten gerettet werden können (Schuldfrage), dominieren seitdem zunehmend den Diskurs, religiöse Deutungen gerieten dagegen in den Hintergrund (204, 206).
Die Monographie endet, wegen des breiten Zielpublikums in bewusster Ermangelung eines Anmerkungsapparates, mit einem ausführlichen, pro Kapitel und Katastrophe summarisch angelegten Literaturverzeichnis (281–289), in welchem nur zentrale Werke aufgeführt werden; ein Personenregister rundet die gelungene Darstellung ab. Für mit der niederländischen Geschichte Vertraute stellt Jensens Werk eine interessante Erweiterung dar. Wie die Autorin selbst schreibt, wurde die Geschichte der Niederlande bisher zumeist aus der Sicht des »Aufstands gegen die Spanier« (16.–17. Jahrhundert), dem Zweiten Weltkrieg oder aus der Perspektive der Dekolonisierung Niederland-Indiens geschrieben (10). Dabei dominieren zahlreiche Meistererzählungen, die sich nicht selten nur den Kennerinnen und Kennern der Geschichte als solche entlarven, Jensen verweist, wie erwähnt, etwa zutreffend auf die diesbezügliche Wassermetapher als Manifest niederländischer Identität. Dennoch ist auch hier einige Vorsicht geboten: Ihre sich nahezu durch alle Kapitel ziehende, ausführliche Darstellung der großen Hilfsbereitschaft als »niederländische Tugend« öffnet bei fehlender kritischer Lektüre »Tür und Tor « für das nächste »nationale Narrativ«.
Aus regionalhistorischer Sicht, die den gesamten Benelux-Raum sowie angrenzende deutsche (Rhein-Maas-Raum) und französische Gebiete als eine Makroregion begreift, ist zudem interessant, dass Jensen zumindest für das Mittelalter die Niederlande über die heutigen Staatsgrenzen hinwegzudenken scheint, so werden mehrfach etwa auch Antwerpen und Brabant bezüglich der Katastrophen und ihres Ausmaßes mit einbezogen (z. B. 38, 61). Aus gleicher Perspektive für die Rezensentin besonders bemerkenswert ist die Schilderung der Schiffsbohr-/Pfahlwurm‑Katastrophe 1730, denn sie unterstreicht die Bedeutung der Geofaktoren (Wasser, Wald, Berge, Moore, Wüste etc.) im regionalen Gefüge: Nicht nur die Lage der Niederlande an der Nordsee ist diesbezüglich ein Indiz. Auch die Tradition des Überseehandels (VOC, WIC) spielte hier eine Rolle, denn gerade die großen Überseeschiffe waren es, die die Muschelart in die Niederlande einschleppten. Dort wurde sie zu einer großen Gefahr für das gesamte Land: Da sie auch in Süßwasser überlebensfähig ist, bildeten die hölzernen Unterbauten und -pfähle ein optimales Lebensterrain. Aus orthodoxer Sicht wurde ihr Erscheinen damals als göttliche Strafe für Homosexualität interpretiert, was zu einer größeren Verfolgungswelle führte. Zugleich erbrachten mit der Zeit gezielte wissenschaftliche Untersuchungen nachhaltige Lösungen: Die Deiche wurden durch Steinwälle geschützt, durch die sich der Pfahlwurm nicht bohren konnte. Jedoch noch heute bildet er, vor allem durch den Klimawandel (Wassererwärmung und Meeresspiegelanstieg) eine Gefahr für das Nachbarland (107).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Lina Schröder, Rezension von/compte rendu de: Lotte Jensen, Rampen. Een nieuwe geschiedenis van Nederland, Amsterdam (Prometheus) 2024, 292 S., Ill., ISBN 978-90-446-3645-1, EUR 27,50., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109500