Um 1790 sind die französischen Kolonien in der Karibik in Aufruhr. Dazu beigetragen haben auch die Entwicklungen im »Mutterland«, z. B. kolonialismuskritische Veröffentlichungen wie die »Histoire philosophique et politique des deux Indes« des Abbé Raynal (1770, 1774, 1780) oder die Debatten in der Nationalversammlung, u. a. um die politische Repräsentation der Kolonien im Parlament, die Menschenrechte und eine mögliche Abschaffung der Sklaverei. Umgekehrt erreichen immer neue Nachrichten von Unruhen der schwarzen Bevölkerung einerseits und von politischen Widerständen der weißen Plantagenbesitzer gegen die Regierungspläne andererseits Paris, wo zugleich die Entwicklungen der (Nord-)Amerikanischen Revolution mit Aufmerksamkeit verfolgt werden.
Diese Gemengelage versucht der Sammelband, hervorgegangen aus einer Tagung im Oktober 2018, in einem 80-seitigen Grundsatzessay und 13 Fallstudien als »mouvement plurifocal et transatlantique« und mit dem Begriff einer »circulation multidirectionelle« von Ideen, Texten und Diskursen zu fassen. In der Tat lässt sich unter dieser Prämisse das bekannte Gemälde, das Anne-Louis Girodet 1797 von Jean-Baptiste Belley anfertigte, einem schwarzhäutigen freigekauften ehemaligen Friseur und zeitweiligen Konventsabgeordneten für die Region Nord von Saint‑Domingue, als Symbol »[de] la problématique de la circulation des idées des Lumières entre la France et les Amériques« auf mehreren Ebenen verstehen, wie Ralph Ludwig in seinem Einleitungsessay formuliert (19): Selbstbewusst aufrecht stehend, stützt sich der schwarze Politiker und »homme de couleur libre« – der aber selbst zwei Sklaven besaß – mit dem rechten Arm auf den Sockel einer weißen Marmorbüste des ein Jahr zuvor verstorbenen Raynal.
Die erste Gruppe von Beiträgen untersucht die Veränderungen, die »metropolitane« Aufklärungskonzepte im Kontext der Kolonien entwickeln. Fritz Calixte argumentiert, dass es zwischen ihnen ein voneinander differierendes Verständnis von Universalität gebe; »la liberté thématisée par les Lumières rimait parfaitement avec l’esclavage et la domination des Noirs« (73, »Querelle de l’universel entre les Lumières et les Antilles«). Damien Tricoire diskutiert die Frage »Que furent les Lumières coloniales?« und nimmt damit den in den letzten Jahren vor allem in der angelsächsischen Tradition verbreiteten Begriff des »colonial Enlightenment« auf. Ihn diskutiert er vor allem in Hinblick auf die Wirtschaftstheorie und im Verhältnis zu physiokratischen Vorstellungen, bleibt angesichts seiner großen Unbestimmtheit aber skeptisch hinsichtlich seines Erklärungspotentials. Marie-Therese Mäder präsentiert mit Jean‑Baptiste Mathieu Thibault de Chanvalon (1723–1788) und seiner »Voyage à la Martinique« von 1763 einen Vertreter jener kolonialen Aufklärungselite (99–125).
Einen anderen Ansatz verfolgt die Nachzeichnung der literarischen Repräsentation der politischen Vorgänge in den Kolonien; hier rückt nun neben der zeitgenössischen verstärkt auch eine aktuelle Perspektive in den Blick. Hans-Jürgen Lüsebrink analysiert die biografische und fiktionale Darstellung von Toussaint Louverture, dem historischen Führer der haitianischen Unabhängigkeitsbewegung, als einem »héritier paradoxal des Lumières«. Hier stehen nicht zuletzt die unterschiedlichen Interpretationen des Einflusses der Aufklärung auf sein Handeln im Vordergrund; unter den bisher in der kritischen Literatur weniger behandelten Texten fällt Jean Métellus’ Toussaint Louverture, le précurseur von 2014 auf, der trotz seiner Bezeichnung als Roman auf dem akribischen Studium der zeitgenössischen Quellen beruht (Florian Alix wird später noch einmal auf den Text eingehen, 265‑267). Gesine Müller interpretiert vier Texte aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Haitianische Revolution, und zwar zwei europäische (Victor Hugo, Lamartine) und zwei deutlich weniger bekannte karibische (Louis de Maynard de Queilhe, Joseph Levilloux), während Anja Bandau die Darstellung der Revolution im metropolitanen Populärtheater der Zeit betrachtet. Hier handelt es sich um drei ephemere Stücke, zwei Roman-Adaptationen von 1790 und 1798 (Le Nègre comme il y a peu de Blancs bzw. Adonis, ou le bon Nègre) sowie ein Stück des Erfolgsdramatikers Pigault-Lebrun, dessen Vorwort zur Druckfassung von 1795 eine ganze Anzahl von Zitaten aus dem berühmten elften Kapitel von Raynals Histoire des deux Indes kompiliert (201).
Ihren Schwerpunkt in den literarischen Widerspiegelungen von Aufklärung und Revolution in der unmittelbaren Gegenwart finden die folgenden drei Beiträge: Frère Volcan (1983/2017) ist ein Roman von Vincent Placoly über die Situation von Martinique um 1848 (Corinne Mencé-Caster); die von ihm so genannten »Lumières ›fantômes‹« behandelt Florian Alix, v. a. anhand wiederum der Figur von Toussaint Louverture (Césaire, Glissant und Métellus). Gisela Febel analysiert die Vorstellung der Natur der Antillen bei Nicolas Germain Léonard (1744–1793; geboren auf Guadeloupe und gestorben in Nantes) und deren Echo in der zeitgenössischen Lyrik.
Betrachtet man den Band in seiner Gänze, so erweist sich das einigermaßen unspezifische Kriterium der »Wissenszirkulation« als wie zu erwarten nützlich, um eher unterschiedlichen Einzelstudien eine sinnvolle Gesamtperspektive zu geben. Ausdifferenziert wird er erfreulicherweise im abschließenden fast 80-seitigen Grundsatzessay »Les Lumières aux Antilles: Voies et formes de la circulation des idées« von Febel und Ludwig (303–380). Dieser steht unter dem Leitgedanken, der ganze transatlantische Raum lasse sich »comme un réseau ou un tissu complexe« verstehen, in dem sich aufklärerische Ideen auf unterschiedlichen Wegen verbreiteten (322), eine Überlegung, die auch der Tatsache einer sich erst langsam entwickelnden Schriftgesellschaft (culture scripturale) Rechnung trägt, in der sich Rezeptions- und Zirkulationsmomente häufig »unterirdisch« (Glissant) vollziehen. Im Zusammenhang mit dieser Überlegung ist es interessant zu verfolgen, wie sich in einem – ansonsten nicht sehr spektakulären – kolonialen Familienbriefwechsel aufklärerische Werte (nicht Lektüre-Belege!) in Alltagspraxis, etwa als mütterliche Verhaltensratschläge, niederschlagen (Mathilde Chollet). Andere Orte des Informationsaustauschs sind Schiffe, sei es bei der Überfahrt zwischen den Kontinenten, sei es zwischen den Inseln, sowie – etwas überraschend – in der Verarbeitung in Theaterstücken. Als das wirkungsmächtigste gedruckte Werk zwischen den Kontinenten und zwischen 1770 und 1790 wird man Raynals Histoire des deux Indes annehmen müssen, das in fast allen Beiträgen und den unterschiedlichsten Zusammenhängen eine Rolle spielt; Natascha Ueckmann steuert einleitend einen außerordentlich dokumentierten Überblick zu seiner Rezeption innerhalb der aktuellen Postkolonialismusdebatte bei.
Wie alle Kongress-Sammelbände weist auch dieser seine Unebenheiten auf. Er bildet aber insgesamt einen interessanten Beitrag zur neueren Forschungsdebatte, die die französischen Antillen des 18. Jahrhunderts nicht mehr wie zuvor als einen gegenüber der Metropole unprofilierten Kulturraum versteht, sondern nach den spezifischen Bedingungen fragt, unter denen sich vor Ort die Rezeption von Aufklärungsdiskussionen vollziehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Bremer, Rezension von/compte rendu de: Ralph Ludwig, Natascha Ueckmann, Gisela Febel (dir.), Les lumières dans les Caraïbes françaises et la circulation transatlantique des idées, Paris (Classiques Garnier) 2024, 403 p. (Rencontres; Le dix-huitième siècle, 608; 44), ISBN 978-2-406-15837-0, EUR 36,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109503