Wer sich ein vielbetretenes Gebiet wie die europäischen Reisen des 18. Jahrhunderts vornimmt, muss sich fragen lassen, was der Autor Neues zu bieten hat. Gilles Montègre, maître de conférences an der Universität Grenoble-Alpes, lehnt zunächst einmal den Zugang über die bekannten Begrifflichkeiten wie »Grand Tour«, »Kavalierstour« und »Tourismus« ab. Er will den Bereich des europäischen Reisens im Zeitalter der Aufklärung erweitern, indem er den geläufigen Weg einer Interpretation als kulturell geprägte Form des Reisens führender Schichten meidet und stattdessen den Horizont auf das Reisen überhaupt öffnet. Freilich nicht so weit, dass auch Unterschichtenmobilität oder Exil darunter gefasst würden. Er denkt eher an Reisen zu medizinischen Zwecken, Verwandtschaftskontakte und wissenschaftliche Forschungen. Aber auch hier lehnt er es ab, verschiedene Reisetypen gegeneinander zu profilieren; vielmehr will er das Reisegeschehen im 18. Jahrhundert überhaupt nach verschiedenen Gesichtspunkten erschließen, die sich ihm aus seinen Quellen anbieten.
Was aber sind seine Quellen? Gilles Montègre hat vor Jahren einen starken Quellenfundus aufgetan, der sich um einen unbekannten Aufklärer namens François-de-Paule Latapie (1739–1823) rankt. Im Kern finden sich diese Bestände in verschiedenen Bibliotheken in Bordeaux, aber auch in einem Familiennachlass. Wer war dieser Latapie? Er wurde auf dem Schloss La Brède geboren; sein Vater war Jurist im Dienste des bekannten Philosophen, Staatstheoretikers und Reiseschriftstellers Charles-Louis de Secondat, baron de La Brède et de Montesquieu; möglicherweise war er sogar dessen unehelicher Sohn. Jedenfalls wuchs er auf dem Schloss auf, hatte regen Kontakt mit dem Berühmten, der starb, als er 15 Jahre alt war. Vom Sohn des Philosophen wurde er anfangs als Sekretär angestellt, dann, um dessen Sohn zu erziehen und auszubilden. Latapie studierte zunächst Medizin in Bordeaux und suchte dann sein Glück in Paris. Vor allem bildete er sich als Botaniker fort und verkehrte in den Salons von Mme Geoffrin und der Herzogin von Larochefoucauld. Latapie unternahm 1770 eine Englandreise und veröffentlichte anschließend anonym eine Schrift über englische Gärten (eine um eine Einleitung erweiterte Übersetzung des Buches von Thomas Whately). Er wurde von Mably und Larochefoucault gefördert, vor allem aber von Trudaine de Montigny, dem einflussreichen Direktor der École des ponts et chaussées und des Bureau du commerce. Aufgrund seiner Beobachtungen auf einer Studienreise in die Normandie erhielt er den Auftrag und ein Stipendium für eine dreijährige Italienreise (1774–1777). Latapie hinterließ 14 Hefte mit Aufzeichnungen von seinen Reisen, die er unter den Titel Éphémérides stellte, aber nicht veröffentlichte. Sie bilden die zentrale Hauptquelle für Gilles Montègre, der daraus auch schon den Teil über Rom gesondert ediert hat (2017). Darüber hinaus hat er eine reichhaltige Handschriftenüberlieferung berücksichtigt und 254 Reisewerke der Epoche ausgewertet. Latapie dient ihm als eine Art von Sonde in das unermesslich große Gebiet der aufgeklärten Reiseliteratur.
Das umfangreiche Werk ist in vier Teile geteilt: Im ersten vermisst Montègre die äußeren Bedingungen des Verkehrswesens, die Landschaftswahrnehmung, die Grenzen. Im zweiten widmet er sich den gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen der Reisenden, er fragt nach den sozialen Schichten, der Beteiligung von Frauen. Im dritten stellt er den Gesichtspunkt der Beobachtung und Wissensgewinnung in den Vordergrund der Analyse. Der vierte Teil gilt der Emotionsgeschichte: den Gefühlen der Reisenden unterwegs, der ästhetischen Wahrnehmung, schließlich den politischen Beobachtungen und der Sehnsucht nach Freiheit.
Montègre meidet für die Zeit zentrale Wahrnehmungsschemata wie die bekannten Nationalcharaktere. Er berücksichtigt aber auch nicht die konfessionelle Wahrnehmung, die weite Teile insbesondere der deutschen und englischen Reiseüberlieferung anleitet.
Es ist eine sehr wortreiche und rhetorische Darstellung daraus entstanden, vielfach anregend, etwas essayistisch. Man erfährt, selbst als Kenner der Reiseliteratur dieser Zeit, immer noch eine Menge an Details und interessanten Gesichtspunkten. Vor allem die Latapie-Quellen sind in jeder möglichen Hinsicht ausgewertet und einbezogen worden. Beispielsweise hat der Autor genaue Tabellen über die 1313 Begegnungen Latapies auf seiner Italienreise aufgestellt und aufgeschlüsselt, welchen Persönlichkeiten das Epitheton »célèbre« zuerkannt wird. Er hat auch bestimmte Worthäufigkeiten ausgezählt wie das Vorkommen des Wortes »pittoresque« (mit der interessanten Beobachtung, dass Latapie engl. »romantic« meist mit frz. »pittoresque« wiedergibt). Er hat auch ein Kryptoalphabet entschlüsselt, dessen sich Latapie an brisanten Stellen (etwa erotischer Natur) bedient hat. Im Detail ist das Werk sehr reichhaltig.
Überhaupt ist der Quellenfleiß des Autors stupend. Allerdings hat seine Aufmerksamkeit auf die handschriftlich überlieferten Quellen zur Folge, dass beispielsweise das Zeitschriftenwesen, in dem ja ein beträchtlicher Teil des Reisediskurses der Aufklärer stattfindet, nicht berücksichtigt wurde. Desgleichen werden französische und italienische Quellen bevorzugt, die englische Seite weniger und die deutsche fast gar nicht. Das hat Folgen. Beispielsweise weiß er von Schlözer nur, dass er sich gegen Frauenreisen ausgesprochen habe, aber nicht, dass derselbe Autor eine bahnbrechende Reise mit seiner Tochter Dorothea veröffentlicht hat. Er beschäftigt sich mit der kuriosen Vesuv-Maschine William Hamiltons, weil Latapie sie gezeichnet und beschrieben hat, aber der künstliche Nachbau des Vesuvs im Garten von Wörlitz ist ihm entgangen.
Trotz solcher Hinweise und Einwände im Einzelnen, die sich vermehren ließen, liegt uns hier ein sehr gelehrtes und kenntnisreiches Buch vor. Eigentlich das Beste, das man gegenwärtig über Reisen im Zeitalter der Aufklärung lesen kann.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michael Maurer, Rezension von/compte rendu de: Gilles Montègre, Voyager en Europe au temps des Lumières. Les émotions de la liberté, Paris (Tallandier) 2024, 656 p., farb. Abb., ISBN 979-10-210-5013-6, EUR 26,90., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109505