Der vorliegende Band stellt das letzte Buch dar, das der renommierte französische Sozial- und Kulturhistoriker Daniel Roche (1935–2023) gemeinsam mit mehreren kanadischen und französischen Kollegen wenige Monate vor seinem Tod veröffentlicht hat. Es schließt insbesondere an sein Buch über Le Peuple de Paris au XVIIIe siècle (1981), eine umfassende Sozialgeschichte der Pariser Unterschichten des 18. Jahrhunderts, sowie an seine kritische Edition der Memoiren des Pariser Glasermeisters Jacques-Louis Ménétra an, die 1982 unter dem Titel Journal de ma vie erschienen sind und deren Manuskript Daniel Roche, ebenso wie die im vorliegenden Buch edierten übrigen Schriften von Ménétra, in der Bibliothèque historique de la ville de Paris entdeckt hatte. Die kritische Edition autobiografischer Texte von J.-L. Ménétra, die den Titel Souvenirs tragen und in Versform gefasst sind, sowie verschiedener Chansons und sonstiger, zum Teil auch politischer Schriften, umfasst in dem vorliegenden Band knapp 180 Seiten. Sie werden eingerahmt von einem kurzen Vorwort der Herausgeber (13), einer Einleitung des in Genf lehrenden Historikers Michel Porret (»Le vitrier, la plume et l’encrier«, 17‑24) sowie zwei Aufsätzen von Daniel Roche, die 1985 und 1986 in Deutschland bzw. in den USA erschienen sind und exzellente Darstellungen der Biografie Ménétras und seiner Schriften sowie ihres sozialhistorischen Stellenwerts bieten (29–57). Den Schlussteil des Bandes stellen 26 alphabetisch geordnete, kurze Aufsätze der anderen Autoren und Herausgeber dar, die sich mit den vielfältigen Facetten des Werkes von Ménétra beschäftigen – von »Aventure« bis zu »Zygomatique« (dt. Lachmuskeln) und unter Berücksichtigung so unterschiedlicher Themen wie »Bonaparte«, »Dieu«, »Honneur«, »Jean-Jacques (Rousseau)«, »Morale«, »Révolution«, »Tolérance« und »Sexe«. Eine zweiseitige Auswahlbibliografie (449–450), in der auch englische und deutsche Titel Berücksichtigung finden, schließt den Band ab. Die im letzten Teil des Buches abgedruckten, alphabetisch geordneten analytischen Beiträge bieten, neben den beiden Aufsätzen von Daniel Roche, äußerst anregende und vielfältige Zugänge zu Ménétras Schriften und ihrem Stellenwert für die Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte des Aufklärungszeitalters und der Französischen Revolution.
Der Fund und die Edition der Schriften von Ménétra, im Anschluss an die Edition seiner Autobiografie, stellen durchaus eine kleine historiografische Sensation dar, ebenso wie vor knapp 50 Jahren das Werk Il formaggio e i vermi (1976, Der Käse und die Würmer) von Carlo Ginzburg. Ähnlich wie die Aussagen des von Ginzburg entdeckten Müllers Domenico Menocccio vor dem Gericht der Inquisition eröffnen die – zweifellos formal und großenteils auch inhaltlich völlig anders gelagerten – Schriften von Ménétra (1738‑1812) eine quellenmäßig in dieser Form und Komplexität noch nicht erschlossene Sicht auf die soziale Welt und die Mentalität eines Vertreters des »breiten Volks«, der Plebejer, im Paris der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Unter den vielfältigen Aspekten, die der vorliegende Band anhand der Schriften von Ménétra beleuchtet, seien zwei herausgegriffen, die uns von besonderem Interesse scheinen. Zunächst Ménétras »libertärer Antiklerikalismus«, der auf die Dechristianisierungsbewegung des 18. Jahrhunderts verweist: er äußert sich in seinen Schriften in einer scharfen Kritik am Klerus, der kirchlichen Hierarchie sowie an den Dogmen der katholischen Kirche, die er unverhohlen als »Lügen« (»mensonges«), »Betrügereien« (»impostures«) und »Aberglauben« (»superstitions«) bezeichnet. Ihnen setzt Ménétra seinen Glauben an ein höchstes Wesen und an deistisch geprägte Werte entgegen, der nicht auf Verboten, Vorstellungen wie »Hölle« und »Fegefeuer« sowie auf Begriffen wie »Sünde«, »Buße« und »Vergebung«, sondern auf den Werten der Brüderlichkeit, der Solidarität und der Humanität fußt und mit dem von Ménétra vertretenen libertären Hedonismus vereinbar erscheint. Sodann sind Ménétras politische Ansichten von herausragendem Interesse, zumal sie charakteristisch erscheinen für breitere Volksschichten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich. Ménétra entwickelte sich von einem Anhänger einer aufgeklärten Monarchie zum gemäßigten Republikaner – der sich in der Sektion Bon Conseil engagierte und zugleich während der Jahre 1793–1794 die Jakobinerherrschaft der »Terreur« vehement ablehnte – und schließlich zum Bewunderer und Verehrer Napoléon Bonapartes, in dem er, wie viele seiner Zeitgenossen, den Vollender der Französischen Revolution sah.1
An der vorliegenden Edition, die auch durch eine sehr ansprechende typografische Gestaltung, sorgfältig ausgewählte und in vorzüglicher Qualität reproduzierte Illustrationen, präzise Karten (u. a. von Ménétras Wohnsitzen in Paris) sowie Auszüge aus seinen Manuskripten auch bibliophile Leserinnen und Leser zu überzeugen vermag, ist nur wenig auszusetzen. Statt des gelegentlich für Worterklärungen herangezogenen Wörterbuchs von Littré (Dictionnaire de la langue française, Erstausgabe Paris, Hachette, 1873) aus dem ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert wäre es zweifellos besser gewesen, durchgehend Wörterbücher des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zu zitieren. Auf Seite 147 wird die Gesamtzahl der französischen Emigranten während der Französischen Revolution – ohne Quellenangabe – mit einer Million angegeben – eine zweifellos viel zu hohe Zahl,2 die zudem nicht, wie in Fußnote 157 angegeben, 0,5 % der französischen Bevölkerung, die damals ca. 26 Millionen betrug, entsprach. Auf Seite 232 des Beitrags von Michel Porret zu »Aventure«, in dem auf die Bewunderung Ménétras für den »Sozialbanditen« und populären Schmugglerführer Louis Mandrin (1725–1755) eingegangen wird, bezieht sich die erwähnte »Mandarinade« [sic!] wohl auf La Mandrinade, ou L’Histoire curieuse, véritable et remarquable de la vie de Louis Mandrin (1755)3 und La Mandrinade, poëme en quatre chants (1755), zwei in der volkstümlichen »Bibliothèque Bleue« erschienene und weit verbreitete zeitgenössische Schriften über Mandrin, die seine Taten idealisierten und ihn zu einer populären Identifikationsfigur machten. Ob der im Titel des vorliegenden Buches verwendete Ausdruck »Lumières minuscules« letztlich geeignet ist, die durchaus bemerkenswerte politische Bewusstwerdung Ménétras und seine spezifische Aneignung aufgeklärter Ideen und Werte, u. a. im Zuge seiner Identifikation mit Jean-Jacques Rousseau (den er im Juni 1770 auch persönlich kennenlernte) und seinen Schriften zu charakterisieren, mag bezweifelt werden. »Lumières plébéiennes« wäre vielleicht ein passenderer Ausdruck, der zudem an den im vorliegenden Band verwendeten Ausdruck »vie plébéienne« anschließen würde.4
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hans-Jürgen Lüsebrink, Rezension von/compte rendu de: Daniel Roche, Pascal Bastien, Frédéric Charbonneau et al., Les Lumières minuscules d’un vitrier parisien. Souvenirs, chansons et autres textes (1757–1802) de Jacques-Louis Ménétra, Chêne-Bourg (Georg Editeur) 2022, 450 p., ISBN 978-2-8257-1308-2, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109507