Die Bedeutung des Jansenismus für die gesamteuropäische Geschichte des späten 17. und 18. Jahrhunderts steht durch eine dynamische internationale Forschung mittlerweile außer Frage – auch wenn die politisch-soziale Sprengkraft dieser katholischen Reformbewegung im Kontext von Aufklärung und Absolutismus zunächst und schwerpunktmäßig mit Blick auf Frankreich herausgearbeitet wurde. Die europaweite Dimension des Phänomens lag nicht allein im internationalen Medienecho einzelner spektakulärer Ereignisse begründet, wie der Schleifung des Klosters Port-Royal (1710), der päpstlichen Verdammung des Jansenismus durch die Bulle Unigenitus (1713) oder der jansenistischen Wunderheilungen auf dem Pariser Friedhof Saint-Médard (um 1730); auch die Mobilität, die publizistischen Aktivitäten und die länderübergreifende Vernetzung der verfolgten Jansenisten, später der sich immer stärker politisierenden Appellanten und ihrer Sympathisanten in verschiedenen Ländern sorgten für einen entsprechenden Kulturtransfer. Für den deutschen Sprachraum hat sich diese neuere Jansenismusforschung allerdings bislang nicht systematisch interessiert; über religions- und ideengeschichtliche Fragestellungen hinausgehende akteurszentrierte, netzwerkanalytische oder kommunikationshistorische Ansätze, die auch die Materialität der Austauschprozesse berücksichtigen, sind selten. Wie der Herausgeber Christoph Schmitt-Maaß einleitend konstatiert, lassen sich daher weiterführende Fragen nach der Bedeutung des Jansenismus für die Literatur- und Kulturgeschichte im deutschsprachigen Raum bislang noch nicht befriedigend beantworten – gemeint sind hier insbesondere die Beziehungen, Einflusslinien und Abgrenzungen zwischen Pietismus und Jansenismus und die Rolle des Jansenismus für die deutschsprachige Aufklärung insgesamt. Um diese Lücke zu füllen, fand im Oktober 2018 an der LMU München eine interdisziplinäre Arbeitstagung statt, deren Ergebnisse der vorliegende Band dokumentiert.
Einen Überblick über die Forschungsgeschichte im deutschsprachigen Raum und damit wichtige Orientierung bietet zu Beginn der Beitrag von Harm Klueting. Die daran anschließenden Fallstudien haben eines gemeinsam: Sie lassen die oft unbefriedigenden und in der älteren Forschung mitunter polemischen Versuche, einen klar abgrenzbaren theologischen Wesenskern des Jansenismus zu definieren, um einzelne Akteure oder Schriften dann mit dem entsprechenden Label zu versehen, hinter sich, um nach der Rezeption jener Autoren und Ereignisse zu fragen, die in der zeitgenössischen Wahrnehmung dem Jansenismus zugeordnet wurden. So wird es möglich, den Jansenismus als einen europäischen Kommunikationszusammenhang zu begreifen – und damit als Teil einer frühneuzeitlichen Wissenskultur, die auf Rezeptions- und Aneignungsprozessen in sprach-, konfessions- und länderübergreifenden Netzwerken mit ihren zeittypischen Medien- und Publikationspraktiken basierte. Die Beiträge beleuchten verschiedene Facetten dieses Kommunikationszusammenhangs: Volker Kapp arbeitet die Dominanz protestantischer, genauer calvinistischer Deutungsmuster des Jansenismus in den deutsch- und französischsprachigen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts heraus, die zumeist auf Neubearbeitungen und Übersetzungen einschlägiger Passagen aus Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique, aber auch aus dem Grand dictionnaire historique von Louis Moréri zurückgehen und sich bis in den Zedler und die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert nachverfolgen lassen. Mehrere Beiträge widmen sich dem Verhältnis von Jansenismus und Pietismus. Christoph Schmitt-Maaß betrachtet die Jansenismus-Rezeption im lutherischen Pietismus als »kulturtransferielle Aneignungsleistung« (62), die er anhand von Schriften, Briefen, Buchbesitz und teils auf Reisen geknüpften persönlichen Netzwerken der pietistischen »Big Names« (62) Spener, Arnold, Francke und Zinzendorff herausarbeitet; Corinne Bayerl untersucht aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive die Rezeption von Pierre Nicoles theaterkritischem Traktat De la comédie im Kontext des Streits zwischen Pietismus und lutherischer Orthodoxie über die »Mitteldinge«, zeichnet vor diesem Hintergrund die Entstehung der literarischen Figur des religiösen Theaterfeinds als europäisches Phänomen nach und arbeitet die Parodie pietistischen Sprachgebrauchs in der Übersetzung eines antijansenistischen französischen Dramas durch Luise Adelgunde Victorie Gottsched heraus; Mathis Leibetseder analysiert das Reisetagebuch der pietistischen Grafen Reuß und Lynar, die während ihrer Kavalierstour in den Jahren 1731–1732 unter anderem nach Paris kamen und dort den Friedhof Saint-Médard besichtigten, wo sich gerade unter reger öffentlicher Anteilnahme die jansenistischen Wunderheilungen ereigneten. Über die dänische Gesandtschaft knüpften sie Kontakt zum jansenistischen Abbé Ferrus, der sie mit einschlägiger Literatur, unter anderem der Untergrundzeitschrift Nouvelles ecclésiastiques, versorgte. Dass einzelne Akteure eine besondere Schlüsselrolle für die Verbreitung jansenistischer Schriften im deutschen Sprachraum haben konnten, ohne dabei zwangsläufig selbst eine primär »jansenistische« Agenda zu verfolgen, zeigen die Beiträge von Mona Garloff und Juliette Guilbaud. Garloff untersucht die Verbreitung jansenistischer Drucke in Böhmen durch die Nürnberger Verlagsnetzwerke um Franz Anton Graf von Sporck, blickt dabei auf Praktiken der Anpassung und Unkenntlichmachung von Autorschaft und zeigt, dass die jansenistischen Schriften hier in einem breiteren, konfessionelle Grenzen überschreitenden Spektrum religiöser Literatur zu verorten sind. Guilbaud widmet sich mit der von 1784 bis 1789 erscheinenden Wiener Kirchenzeitung einer bislang vernachlässigten periodischen Publikation von Marx Anton Wittola und arbeitet Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen dieser Zeitschrift und den Nouvelles ecclésiastiques heraus. Silvia Schmitt-Maaß beleuchtet die Rolle jansenistischer Kunst für die Konversion und die Frömmigkeitspraxis von Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, die 1707 zum katholischen Glauben übertrat, um den Habsburger und späteren Kaiser Karl VI. zu heiraten. Dass der jansenistische Kulturtransfer im deutschen Sprachraum keine Einbahnstraße war, zeigt schließlich besonders eindrucksvoll der Beitrag von Shaun L. Blanchard über die Einflüsse deutschsprachiger Autoren auf die Synode von Pistoia und die Rezeption des Pistoianismus im Heiligen Römischen Reich, insbesondere im Erzbistum Mainz unter dem reformkatholischen Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Beiträge des Bandes nur einzelne Aspekte des breiten Fragenspektrums behandeln, das der Herausgeber eingangs skizziert, und dies dann auch jeweils mit ihrem eigenen disziplinären Fokus. In ihrer Gesamtheit unterstreichen die hier versammelten Fallstudien dennoch das Potenzial eines methodisch breit angelegten interdisziplinären Ansatzes zur Erforschung des Jansenismus – auch wenn ein wesentliches Ergebnis der Lektüre gerade darin besteht, dass eine Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum zwar strategisch und heuristisch sinnvoll ist, sich aber zugleich aus verschiedenen Gründen als methodisch problematisch erweist; und zwar gerade dann, wenn man die Spezifika der frühneuzeitlichen Wissenskultur als eines grenzüberschreitenden Kommunikationszusammenhangs ernst nehmen und den Blick auf Übersetzungspraktiken in einem breiten Verständnis richten will.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christine Vogel, Rezension von/compte rendu de: Christoph Schmitt-Maaß (Hg.), Der Jansenismus im deutschsprachigen Raum, 1670–1789. Bücher, Bilder, Bibliotheken, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2023, 242 S., 12 farb. Abb., 1 Tab (Frühe Neuzeit, 250), ISBN 978-3-11-079695-7, DOI 10.1515/9783110986655, EUR 89,95., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109510