Die Leipziger theologische Dissertation beschreibt die Rezeption des Johannes Hus von der frühen Reformation bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (25). Während das Thema »Luther und Hus« gut erforscht und bekannt ist, wurde die Rezeption besonders im radikalen Flügel kaum thematisiert und es fehlt an Aufarbeitung der bildlichen und materiellen Memoria sowie die Aufnahme des Liedes von Hus ins Gesangbuch. Den Endpunkt setzt die Monografie etwa 1730, weil ab da in der beginnenden Aufklärung Hus deutlich anders und pluralistischer dargestellt wird, »ein Bruch mit alten Rezeptionsformen« im Zeichen von Liberalismus und Nationalismus. Nicht behandelt sind die Hussiten und ihre militärischen Unternehmungen: »›Hus war kein Hussit‹ (Peter Hilsch)« (28). Ebenso fehlt die tschechische Rezeption, dazu gebe es Forschungen, die Eike Hinrich Thomsen aber nicht referiert. Rezeption bedeutet immer auch eine Anverwandlung durch die Rezipierenden; es geht also nicht um das Spätmittelalter und den historischen Hus (noch weniger um seinen radikaleren Begleiter Hieronymus von Prag), sondern um das Bild von Hus in der Frühen Neuzeit, als er zum Identitätssymbol der Reformation wurde. Die Arbeit entstand im Kontext der Ausgabe Johannes Hus Deutsch, hrsg. von Armin Kohnle und Thomas Krzenck (Leipzig 2017).
Im ersten Teil geht es um »Grundlegungen in der frühen Reformationszeit« (33–184). Während Hus im 15. Jahrhundert als Ketzer bewertet wurde, der auf dem Konstanzer Konzil zu Recht mitsamt seinen Schriften verbrannt wurde, ändert sich das mit der Reformation schlagartig. Auf der Leipziger Disputation 1519 drohte Dr. Eck damit, dass Luther die Häresie des Hus erneuere und ihm damit das gleiche Schicksal drohe. Luther informierte sich daraufhin und sorgte dafür, dass Hus’ Hauptwerk De Ecclesia 1520 (im Elsass) gedruckt wurde. Aus dem Bild Hus als Ketzer wird Hus der Vorläufer, Hus der Prophet und Hus der Märtyrer. Luthers Bezug auf Hus und der seiner Mitstreiter ist bereits gut erforscht: Sie lassen Hus’ Texte drucken, erklären ihn zum Vorläufer, zum Märtyrer/Bekenner. Berühmt ist die Prophezeiung, die Hus zugeschrieben wird, dass hundert Jahre später einer auftreten wird, der dem Papsttum die Autorität abspricht, die »Wahrheit« gewaltsam unterdrücken zu dürfen. Aus der gebratenen Gans (so die Bedeutung des Namens Hus) wird der Schwan (Luther) entstehen. Im Kontext der Planung und Durchführung eines Konzils (Mantua und Trient), das über den Glauben der Kirche entscheiden sollte, bestreiten die Lutheraner dessen Autorität: Während in Konstanz drei Päpste abgesetzt und verurteilt wurden, wurde nicht inhaltlich über Hus’ Theologie debattiert, vielmehr das Versprechen des freien Geleits gebrochen und Hus getötet. Das spricht gegen eine faire Auseinandersetzung; das Konzil ist Partei. Die lutherische Seite lässt Hus’ Briefe aus dem Gefängnis drucken, in denen er die Lügen des Konzils beklagt – nicht erforscht war dagegen die Rezeption von Hus in den anderen Zentren der Reformation, Zürich und Straßburg (das bei EHT auch nur knapp: 75–83), vor allem aber bei den »radikalen« Reformatoren und bei den Täufern (137–157) und die Polemik bei den Altgläubigen (43‑50; 159–177; 361–388). Dazu die Ikonografie und das Drama des Agricola Tragedia Johannis Huss 1537 (346–354).
Die Debatte um das Konzil behandelt Thomsen erst weit hinten im Buch (333–359), nicht am chronologischen Ort. Zudem war die Konzilsfrage zunächst die Rettung für Luther und seine Bewegung, weil der Kaiser ein Moratorium festlegte – gegen die päpstliche Bannbulle – indem er die Wahrheitsfrage auf ein einzuberufendes Konzil vertagte. Als dann das Konzil für 1537 geplant und acht Jahre später in Trient realisiert wurde, befand sich das Luthertum in der Defensive (Misserfolg des Schmalkaldener Bundes bis hin zum Interim) und bestritt die Autorität des Konzils, über den Glauben zu entscheiden.
Der zweite Teil untersucht »Tradierung und Ausdifferenzierung« (187–413), vor allem Hus als zentraler Bestandteil der lutherischen Memoria. Spätestens seit 1591 belegt ist »der Traum Friedrichs des Weisen«: Luther schreibt seine Thesen an die Schlosskirche mit einer Schreibfeder, die das Ohr des Löwen (Papst Leo XIII.) zersticht und seine Krone wackeln lässt. Der Versuch aber, die Schreibfeder zu zerstören, misslingt, denn sie stammt aus der »Gans« aus Böhmen (249–253). Thomsen verfolgt die Rezeption Hus’ über die Reformationsjubiläen 1617 und 1717 bis hin zum Pietismus.
Der Anhang enthält das Quellenverzeichnis auf 60 Seiten und die Forschungsliteratur auf 45 Seiten, dazu das Verzeichnis der 21 Abbildungen. Ein Personenregister erschließt den Inhalt (Luther ist nicht nachgewiesen; er ist im ganzen Buch präsent. Aber auch die 46 Stellen etwa zu Melanchthon sollten spezifiziert werden).
Eike Hinrich Thomsen hat eine Arbeit vorgelegt, die die hohe Bedeutung des Hus für die Identitätsbildung des Luthertums bis etwa 1730 nachweist. Dafür hat er eine immense Zahl an Publikationen und anderen Zeugnissen außerhalb der gedruckten Werke gefunden und durchsucht. Insofern ist das eine große Leistung mit einigen bislang unbekannten Funden, jedoch: auf gewohnten Bahnen. Weiterführende Fragen werden nicht gestellt, wie: Die europäische Dimension der Reformationen (wie kommt Wyclif nach Böhmen und nach Wittenberg?) oder wie ist Agricolas Tragedia in der Theatergeschichte zu verorten? Ketzer und Heiliger. Das Bild des Johannes Hus zwischen Reformation und Aufklärung ist somit eine solide kirchenhistorische Arbeit zur deutschen Reformationsgeschichte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christoph Auffarth, Rezension von/compte rendu de: Eike Hinrich Thomsen, Ketzer und Heiliger. Das Bild des Johannes Hus zwischen Reformation und Aufklärung, Göttingen (V&R) 2023, 523 S., 18 s./w. Abb., 3 farb. Abb. (Refo500 Academic Studies [R5AS], 96), ISBN 978-3-525-57354-9, EUR 140,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109514