Das rezensierte Werk befasst sich mit der Geschichte von Epidemien im Fürstentum Lüneburg zwischen 1565 und 1666. Die untersuchte Region soll dabei, so der Autor, exemplarisch für die Widerstandskraft der Gesellschaft unter extremen Bedingungen stehen. Die Schlüsselperspektiven sind Sterblichkeit, Demografie und Deutung, womit zugleich die Gliederung des Buches in zwei Hauptteile (nach einem ersten Teil zu Grundlagen und Voraussetzungen) vorgegeben ist.
Die Einleitung gibt einen knappen Überblick über die Geschichte der Pest zwischen 1347 und dem 18. Jahrhundert. Als innovativ wird in der Einleitung die Beschäftigung mit dem ländlichen Raum hervorgehoben, der im Vergleich zu Städten in der Pesthistoriografie trotz einiger bestehender Forschungen tatsächlich weniger behandelt wird. Wie die Arbeit im Folgenden durchaus erfolgreich zeigt, kann sich diese relative Vernachlässigung nicht generell auf fehlende Quellen berufen. Etwas überzogen erscheint es dagegen, die Beschäftigung mit Seuchenschriften von mehreren Autoren als gänzlich neuen Forschungsweg zu beschreiben (12), man denke etwa an die im Literaturverzeichnis auch erwähnten Studien von Erik Heinrichs oder Samuel Cohn zu Pestschriften aus dem deutsch- bzw. italienischsprachigen Raum. Beim Forschungsstand zeigt das Buch einige Redundanzen, so sind etwa Aussagen zur Pestforschung auf die Einleitung, das Kapitel zu Grundlagen (I.2.1.) und schließlich einen eigenen Forschungsüberblick zur ländlichen Seuchengeschichte (II.5.1.) verteilt.
Entsprechend des doppelten Ziels, die Demografie und die Deutung von Seuchen in Lüneburg zu erforschen, stützt sich die Arbeit auf unterschiedliche Quellen. Im Teil zur Demografie sind dies das außergewöhnlich gut überlieferte Kirchenbuch mit Tauf-, Heirats- und Begräbnisregister aus dem Kirchspiel (Pfarrbezirk) Suderburg, im Teil zur Deutung dagegen theologische und medizinische Seuchenschriften.
Das Kapitel zu Grundlagen und Voraussetzungen trägt im Wesentlichen einleitenden Charakter. Hier werden zunächst in der Pestforschung vielfach debattierte Fragen der Anwendbarkeit heutiger medizinscher Kategorien und Erkenntnisse (Stichwort retrospektive Diagnose) referiert, wobei die Besprechung der Paleogenetik und DNA-Analyse einige neuere Beiträge etwa von Monica Green ausblendet. Es folgen einige Ausführungen zum geografischen und chronologischen Kontext und Forschungsbegriffen wie der Krise des 17. Jahrhunderts und der Stabilisierungsmoderne (Heinz-Dietrich Kittsteiner).
Der mit etwa 170 Seiten bei weitem umfangreichste Teil II widmet sich schließlich wie erwähnt dem Feld der Demografie und wertet detailliert das Kirchenbuch aus Suderberg aus. Die Quellen und Methoden werden vorbildlich transparent gemacht und die Daten grafisch durch Tabellen, aber auch durch Karten mit einzelnen betroffenen Höfen illustriert, wodurch der Verlauf der Infektionen in selten erreichter Detailschärfe sichtbar wird. Die Quellen haben bezüglich der Deutung selbstverständlich auch ihre Grenzen, etwa wenn der Autor die höhere Sterblichkeit bei erwachsenen Frauen »wahrscheinlich« mit der Übernahme von Krankenpflege erklärt (220). Als Ergebnis hält der Autor fest, dass im Untersuchungsraum nur selten Höfe für längere Zeit verlassen blieben und die ländliche Gesellschaft sich trotz des Verlusts vieler Menschenleben als stabil erwies.
Teil III befasst sich mit Pestschriften aus dem Fürstentum Lüneburg, die als Elitendiskurs mit immerhin potentiell breiterer Reichweite gefasst werden. Interessanterweise beginnt der Autor das Kapitel allerdings mit einigen Suppliken, die aber nur bruchstückhaft Auskunft über die Einstellung der Bevölkerung zur Pest geben und eher formelhaft auf Gott als Ursache verweisen (230–232). Das eigentliche Kapitel bespricht dann zunächst theologische Pestschriften (Luthers berühmte Schrift Ob man vor dem Sterben fliehen möge wird als Vorbild für regionale Autoren an den Anfang gestellt) und anschließend medizinische. Neben Inhaltszusammenfassungen der Texte wird, wo möglich, auch genauer auf die Autoren eingegangen. Es folgt ein kurzer Teil zu obrigkeitlichen Seuchenverordnungen. Hier lässt sich kritisch anmerken, dass, wenn man denn diese Gattung mit einbeziehen möchte, sich wie bei anderen Teilen der frühneuzeitlichen Policey unmittelbar Fragen zur Umsetzung oder Implementation stellen, die hier aber gerade nicht Gegenstand sind. Abschließend sieht der Autor die Rolle all dieser Schriften weniger in der effizienten Bekämpfung, sondern in der psychologischen Bewältigung von Seuchen. Der Nachteil, einen Hauptteil auf dieser Quellengattung aufzubauen, ist der Verlust des sonst sehr interessanten Fokus auf den ländlichen Raum.
Der Schluss fasst Ergebnisse der Arbeit zusammen und wirft nochmals grundsätzlich die Frage nach der Bedeutung der Pest im Vergleich zu anderen Krankheiten auf. Die Pest sei, so der Autor, zunächst von Zeitgenossen und darauf aufbauend von der historischen Forschung bis heute überbewertet worden. Hier zeigt sich eine Spannung im Ansatz des Buches, denn einerseits folgt es dieser Schwerpunktsetzung der Quellen durchaus – besonderes im Kapitel zu Seuchenschriften, die überwiegend Pestschriften sind. Andererseits versucht es eine Relativierung der Pest von einem übergeordneten Standpunkt aus (programmatisch schon durch die Aufnahme von Fleckfieber, Ruhr und Typhus im Titel). Es scheint damit etwas unentschieden zwischen kulturgeschichtlicher Akzeptanz und Thematisierung der frühneuzeitlichen Sicht und einer Bewertung von einer »objektiveren« Perspektive aus. Zum Schluss wird die Bewältigung von Seuchen nochmals in den Kontext einer »Stabilisierungsmoderne« gestellt. Insgesamt handelt es sich um eine gut lesbare und detailreiche Arbeit, die exemplarisch den gesellschaftlichen Umgang mit eben keinesfalls immer katastrophalen Epidemien herausarbeitet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Brendan Röder, Rezension von/compte rendu de: Ulf Wendler, Pest, Fleckfieber, Ruhr und Typhus. Epidemien auf dem Land und ihre Deutung im Fürstentum Lüneburg 1565–1666, Göttingen (Wallstein) 2024, 407 S. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 321), ISBN 978-3-8353-5464-7, EUR 41,00., in: Francia-Recensio 2025/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109515