Obwohl, oder gerade auch weil »Zeit« die Dimension des Historischen schlechthin ist, zeichnet sie sich als Gegenstand der Geschichtswissenschaft oft durch ein hohes Maß an Unschärfe aus. Auch die Untersuchung der »Temps de guerre« des Ersten Weltkrieges von Nicolas Beaupré, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Lyon, ist der Problematik des Changierens zwischen der Konzentration auf spezifische Strukturen, Rhythmen und Erfahrungen von Zeitlichkeit selbst auf der einen, dem allgemeinen Bezug auf historische Phasen mit ihren besonderen Bedingungen und Gestaltungsformen auf der anderen Seite, nicht entgangen. Dies zeigt der Titel »In Kriegszeiten« ebenso an wie die eingangs aufgeworfene Leitfrage, »si et dans quelle mesure les contemporains ont eux-mêmes pensé la Grande Guerre comme un ›autre temps‹«, die mit dem Bezug auf die Andersartigkeit das Verhältnis zwischen allgemeinen historischen Bedingungen und ihren spezifischen Temporalstrukturen ebenfalls eher verschwimmen lässt.
Das Buch bietet so eine kulturgeschichtlich fundierte, viele interessante Perspektiven verfolgende Untersuchung der vor allem soldatischen Erfahrungen in und mit den Zeiten des Ersten Weltkrieges, ohne die spezifischen Strukturen der Zeitlichkeit selbst systematisch in den Mittelpunkt zu rücken. Es präsentiert, ausgehend von einer breiten, aber doch stark auf französische bzw. ins Französische übersetzte Arbeiten bezogenen Literaturauswahl, die Vielfalt von kriegsspezifischen Erfahrungszusammenhängen und ihrer zeitlich eingeordneten Wirkmacht. Die Darlegungen gliedern sich in fünf Teile: Am Anfang steht ein allgemeiner Überblick über die Thematisierung von Zeit und Zeitlichkeiten (temps et temporalités) in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, der vom Verhältnis zwischen Ereignis und Entwicklung über allgemeine und auf den Ersten Weltkrieg bezogene Konzeptualisierungen sowie Studien über vormoderne und industrielle Zeitmessverfahren und Beschleunigungserfahrungen bis zur Parallelität verschiedener Zeitmuster und zur Konstruktion von ordnenden Zeitregimen reicht. Es folgen vier konkret auf die Kriegserfahrungen bezogene, zumeist in zwei Kapitel untergliederte Teile, in denen die Quellen und Gegenstände, die spezifischen Momente, die Zyklen sowie die Pathologien der »temps de guerre« behandelt werden.
Für die schriftlichen Quellen geht Beaupré mit Philippe Ariès aus von einem mit der Kriegserfahrung konstituierten »nouveau genre: le témoignage« (85–86), das treffend als eine Verbindung aus Quellengattung und »modalité du temps vécu« bestimmt wird, in der die Authentizität des Erlebens und die rückblickende Erinnerung miteinander verwoben sind. Dabei geht es allerdings nicht um die Konstituierung und Auswertung eines spezifischen Quellenbestandes, sondern eher um eine Sensibilisierung für die Spezifika und die Quellengrundlagen der herangezogenen Literatur. Neben der Kriegsliteratur werden Tagebücher und Korrespondenzen als unmittelbare Zeugnisse vorgestellt, die oft auch die Möglichkeit bieten, über situative Einschätzungen hinaus die Entwicklung der sich im Laufe der Zeit wandelnden Kriegserfahrungen einzufangen. Ein zweiter Zugriff konzentriert sich auf die Objekte der Kriegszeit, wobei neben der Kriegskunst für die spezifischere Thematik der Zeit insbesondere die Armbanduhr von Bedeutung ist, deren Verbreitung unter den Soldaten als »la démocratisation et la massification du port de la montre« (140) eingeordnet wird. Was es jedoch genau bedeutete, wenn ein ausführlich zitierter Artikel der amerikanischen Soldatenzeitung Stars and Stripes 1917 eine Armbanduhr sagen lässt: »Tout ce qui est fait à l’armée, tout ce qui est fait pour l’armée, en arrière des lignes, doit obéir à mon commandement« (139), wird nicht vertiefend untersucht.
Der folgende Teil über die Momente der Kriegszeit konzentriert sich zum einen auf die Erfahrungen des Kriegsbeginns, zum anderen auf entscheidende Momente wie die »Feuertaufe« der Soldaten. Mit Bruno Cabanes wird der Beginn des Ersten Weltkrieges als passage von der Zeit des Friedens in die Zeit des Krieges bestimmt. Die Darlegungen stützen sich vor allem auf rückblickende Deutungen in der Kriegsliteratur, um – vor dem Hintergrund der anfänglichen Erwartung eines kurzen Krieges – die damit verbundene »brèche dans le temps« (147) zugleich als »passage dans un autre espace« zu fassen und zugleich als »changement radical qui brise autant l’espace que le temps« zu deuten (156–157). Von besonderer Bedeutung erscheint hier die Frage nach der 1920 von Garnier Noel als Erfahrung des Krieges beklagte tueuse de l’avenir, die als Ergänzung zum Topos einer lost generation verstanden werden kann. Im folgenden Kapitel geht es schließlich um die als Initiation und als »autre entrée dans le temps de guerre« (181) gedeuteten ersten Kampferfahrungen, um das Erschrecken über die Gewalt sowie um das Erleben von Verwundung und Tod, die mit Paul Verlet zeitlich in »un avant et un après l’expérience de combat« eingebunden werden.
Mit den zyklischen Rhythmen der soldatischen Existenz werden spezifisch zeitliche Muster der Kriegserfahrung thematisiert. Sehr dicht wird hier herausgearbeitet, wie sich in den Wahrnehmungen der Frontsoldaten das Verhältnis zwischen Tag und Nacht zu verschieben begann: Sie sahen sich als »êtres de la nuit« (216), denen die Tage als Ruhephasen zwischen den unter hoher Anspannung stehenden Kampfphasen der Nächte erschienen. Allen Beteiligten war der Versuch gemeinsam, »une maitrise de l’organisation des journées et des nuits de guerre« (222) zu gewinnen, wobei vor allem Routinen und die Monotonie der militärischen Existenz hilfreich waren, um der aufgelösten Abfolge von Tagen und Nächten neue Struktur geben zu können. Ihre Grenzen fanden alle Versuche jedoch in dem zunehmend sinnlos erscheinenden Ziel des militärischen Apparates, der das Töten und den Tod zum Inhalt hatte. Vor allem dies unterschied die Kriegserfahrungen der Soldaten, so wird schlüssig argumentiert, von denen der Zivilisten an der »Heimatfront«, für die generell weiterhin galt: »la nuit reste la nuit, et le jour, le jour« (226). Auf wenigen Seiten werden hier die trotz aller Belastungen stärker von Kontinuität und Normalität geprägten Kriegserfahrungen der Zivilisten angesprochen, ohne neue Perspektiven zu entwickeln.
Der letzte Teil des Buches widmet sich den »pathologies du temps de guerre« (273), wobei vor den psychischen Erkrankungen der Soldaten erst einmal die Bedeutung von Falschmeldungen, Gerüchten und Prophetien in den Mittelpunkt rückt. Das folgende Kapitel verbindet die Feldpost und die Psyche der Soldaten und übergeht eher die psychiatrischen Erkrankungen. Thematisiert werden eindringlich die von Monotonie und Ausweglosigkeit hervorgerufene »Stacheldrahtkrankheit« der Kriegsgefangenen und die allgemeinere Melancholie und Depression der Soldaten, die nur durch Briefe aus der Heimat durchbrochen werden konnte und die Feldpost zum Gegenstand einer »politique publique en temps de guerre« (332) gemacht habe. Es folgt eine Abhandlung über die psychologischen Deutungen der Kriegserfahrung durch Jean-François Lahy und Eugène Minkowski, mit denen vor allem aufgezeigt wird, dass die Zeiterfahrung des Ersten Weltkriegs schon früh zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden ist. Auf knappe Schlussbemerkungen zum im Ersten Weltkrieg geprägten modernen Zeitverständnis folgt noch ein Epilog mit einer sehr eingehenden und schlüssigen Interpretation des Güstrower Denkmals zur Erinnerung an die Toten des Krieges, in dem Ernst Barlach »ce temps suspendu« (389) des Gedenkens zwischen Leben und Tod gestaltet hat.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Wolfgang Kruse, Rezension von/compte rendu de: Nicolas Beaupré, En temps de guerre (1914–1918), Paris (Presses universitaires de France) 2023, 380 p., ISBN 978-2-13-084976-6, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109729