Es ist jedes Jahr die gleiche Geschichte: Während andere ihre Weihnachtsferien genießen, Spaziergänge unternehmen oder die Eisbahn besuchen, sitze ich am Schreibtisch und wünsche mir, ich hätte dieses und jenes Buch nicht zur Rezension angenommen. Doch diesmal war es anders: Wie einen Roman habe ich die rund 400 Seiten verschlungen, die Marie Bossaert, Augustin Jomier und Emmanuel Szurek 2024 vorgelegt haben. Denn L’orientalisme en train de se faire ist mehr als eine wissenschaftliche Pflichtübung zur Geschichte der Orientalistischen Studien in Frankreich im Zeitalter des Kolonialismus. Es handelt sich vielmehr um ein ebenso aufschlussreiches wie aufregendes akademisches Kunstwerk, das sich einer glücklichen biografischen Verkettung und einer mutigen Entscheidung verdankt. Doch der Reihe nach.
Emmanuel Szurek ist maître de conférences an der EHESS; sein Spezialgebiet ist die Turkologie, Türkische Philologie und Geschichte, untrennbar verbunden mit einem ausgeprägten Interesse für die Genese der wissenschaftlichen Disziplinen, die sich im Französischen mit dem Begriff »études orientales« zusammenfassen lassen. Dieses Forschungsinteresse, dem er im Laufe seiner akademischen Karriere immer mehr inhaltliches Profil gab, führte – in Szureks eigener Erzählung am Ende des von ihm mitherausgegebenen Bandes – irgendwie konsequent und doch zufällig zu einer Verbindung mit der Familie Basset-Deny, der mehrere Orientalisten in mehreren Generationen angehörten.
2015 und 2019 übernahm die EHESS deren Familiennachlass, der zwei Kriege und rund ein Jahrhundert in einem Haus in den Vogesen, genauer gesagt in Gérardmer überdauert hatte. Wo wir früher, als es im Winter noch Schnee gab, mit Begeisterung Ski gefahren sind, lagen für Jahrzehnte unbeachtet von der Welt, aber wohlbehütet von der Familie 96 Kartons mit Briefen, Dokumenten und Notizen, die im Wesentlichen aus dem Nachlass des seinerzeit europaweit bekannten Arabisten Réne Basset (1855‑1924) stammten. Wie sich nach der Sichtung herausstellen sollte, handelte es sich aber nicht um einen der üblichen durch professionelle Archivare gefilterten Gelehrtennachlass, sondern um einen wirklichen Familien- und Netzwerknachlass, in dessen Mitte der Sohn, Ehemann, Bruder und Kollege Réne Basset stand. Anstatt diesen Umstand im Sinne einer großen Erzählung der wissenschaftlichen Leistungen Bassets auszublenden, hat sich Szurek von seiner eigenen akademischen Biografie und der Geschichte des Nachlass-»Fundes« angesichts des sich bietenden Geflechts aus Privatbriefen, philologischen Notizen und akademischen Zeugnissen in doppelter Hinsicht methodisch leiten lassen:
Statt eine klassische Monografie (also eine umfassende und möglichst vollständige Darstellung eines einzelnen Gegenstandes aus der Feder eines einzigen Autors) vorzulegen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nur der wissenschaftlichen Kapazität eines Einzelnen zugeschrieben worden wäre, haben drei Herausgeber und 16 Autoren »une enquête collective sur les études orientales dans l’Algier coloniale« vorgelegt. Was meint das genau? Tatsächlich liegt hier keiner der üblichen Sammelbände lockerer, mehr oder weniger zufällig verbundener Einzelaufsätze vor, sondern eine wirklich kooperative Monografie; das einzelne Thema wiederum, das dargestellt wird, sind die Orientalischen Studien im kolonialen Frankreich mit dem Schwerpunkt auf Algerien als Ergebnis vernetzter Praktiken von Gelehrten, Familienmitgliedern und politischer Öffentlichkeit, in deren Mittelpunkt René Basset steht.
So kooperativ wie das Familienarchiv der Basset-Denys entstanden war, so unübersehbar es das Leben und Werk Bassets als kooperative Erscheinung zu Tage treten ließ, so kooperativ erzählt in L’orientaliseme en train de se faire eine Wissenschaftsgemeinde aus Professoren, maîtres de conférences, Doktoranden und Studenten (!) (vgl. das Verzeichnis der Beiträger, 411–412, und die Vorarbeiten durch studentische Arbeiten, 413–415) die Geschichte der wissenschaftlichen Orientalischen Studien im kolonialen Frankreich als eine kooperative Anstrengung. Diese fand in beständiger Wechselwirkung zwischen persönlichen Ambitionen, politischen Angeboten, gelehrten Notwendigkeiten und akademischen In- und Exklusionen statt und führte zu entsprechend angeordneten Wissensbeständen über Sprachen und Kulturen des »Orients«. Methodisch drückt sich das im Anspruch der Herausgeber aus, eine Geschichte der Praktiken orientalistischer Wissenschaft in der politischen Situation und diskursiven Ordnung des Kolonialismus zu liefern (15).
Und so lässt sich L’orientalisme en train de se faire – mindestens – dreifach lesen: Das Buch ist eine Biografie René Bassets – einem der bedeutendsten französischen Orientalisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Dialekte Algeriens, nicht zuletzt der Berbersprachen, betrieben hat. Doch hier wird nicht das Leben eines »großen Mannes« erzählt, sondern die Geschichte einer familiären Arbeitsteilung, ohne die das Werk Bassets nicht möglich gewesen wäre. Genauso wichtig wie Basset selbst sind seine Mutter, sein Bruder, seine Ehefrau, seine Kinder, seine Enkelin, seine Freunde und Kollegen (vgl. die Galerie des personnages, 9–12). So wird unter der Hand aus der Biografie eines Einzelnen eine dialogische Lebensgeschichte und schließlich eine Sozialgeschichte der (französischen) Gelehrsamkeit auf dem Gebiet des »Orientalismus«, die die familiären wie gesellschaftlichen Bedingungen wissenschaftlicher Produktion offenlegt. Selbstverständlich lassen die Autoren dabei auch den Anteil der algerischen Kollegen und Informanten sichtbar werden, ohne die das wissenschaftliche Netz Bassets löchrig wäre.
Die etablierte Wissenschaftsgeschichte stellt sich wissenschaftliche Produktion schon lange nicht mehr als Einzelleistung, sondern als kooperativen Versuch in Auseinandersetzung mit Kollegen, Mediatoren und Dingen vor. Doch so radikal und überzeugend wie in der vorliegenden Kollektivmonografie wird das selten umgesetzt. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem Bassets Dialektstudien, die er an der einzigen »université coloniale« des Französischen Imperiums, der École supérieure des lettres in Algier, als Feldforschung anlegen konnte. Und schließlich lässt sich L’orientalisme en train de se faire als intergenerationelle Geschichte jeder europäischen Gelehrsamkeit und wissenschaftlicher Produktion lesen: wie beides nur als kooperatives Verfahren zwischen Zeiten und Räumen – für Orientalisten, anders als bei anderen Disziplinen, insbesondere zwischen »Orient« und »Okzident« – funktioniert. Ganz ohne Paris kommt auch die Karriere Bassets nicht aus, aber der Raum, den Basset und seine Familie ausfüllen und der in L’orientalisme en train de se faire abgebildet wird, reicht deswegen nicht einfach nur von der Provinz in die Metropole, sondern von der nationalen in die koloniale Peripherie und wieder zurück. Was dem deutschen Leser, der zahlreiche Gelehrtengeschichten kennt, die ihren Anfang in der »Provinz« nahmen und in der »Provinz« endeten, durchaus vertraut vorkommt, wird hier aus französischer Perspektive als bemerkenswert herausgestellt: Paris steht am Ende »provinzialisiert« da. (vgl. »Provincialiser Paris: échelles d’analyse«, 33).
Plakativ formuliert, könnte man sagen: Szurek und seine Mitherausgeber sind der Versuchung, ein »Großer« wie Basset zu werden, nicht erlegen; wohl aber, es der Familie Basset-Deny gleichzutun: Alles an diesem Werk ist dialogisch, vernetzt, kooperativ. Deswegen ist der Band nicht nur in die drei im Inhaltsverzeichnis benannten Teile (Leben und Karriere, Netzwerke und Institutionen, Forschungsgegenstände und -räume), sondern eigentlich in vier Abschnitte gegliedert: Der vierte, nicht ausdrücklich ausgewiesene Teil sind die zwei Kapitel am Anfang und am Ende (Kap. 2 und Kap. 14), die den Entstehungsprozess des vorliegenden Bandes und die ihm zugrundeliegende Materialität, also die Kartons voller nachgelassener Papiere und die Verknüpfung mit der Familie Basset vorstellen (das reicht bis zu der schönen Pointe, dass der Philosoph Guy Basset das Kapitel zu René Basset als Herausgeber der französischen Ausgabe der Enzyklopädie des Islam beigesteuert hat): Während die beiden Archivarinnen Magalie Nié und Naomi Russo dem Leser den Nachlass inhaltlich auffächern, eröffnet der spiritus rector des Unternehmens, Emmanuel Szurek, dem Leser einen emotionalen Zugang zu diesen Objekten: Szureks Epilog, der seine eigene Geschichte und die des Fundes und des Überlebens des Basset-Archivs zum Bestandteil von L’orientalisme en train de se faire macht, macht aus diesem ohnehin großartigen Werk am Ende auch noch einen Krimi des wissenschaftlichen Arbeitens.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sabine Mangold-Will, Rezension von/compte rendu de: Marie Bossaert, Emmanuel Szurek, Augustin Jomier (dir.), L’orientalisme en train de se faire. Une enquête collective sur les études orientales dans l’Algérie coloniale, Paris (Éditions de l’EHESS) 2024, 496 p. (En temps & lieux, 122), ISBN 978-2-7132-3374-6, EUR 24,80., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109734