Wie hat sich das Verhältnis Frankreichs zur NATO seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks entwickelt? Was ist aus den Träumen von nationaler Unabhängigkeit und europäischer Autonomie geworden? Und vor welchen Herausforderungen steht Frankreich angesichts des Aufstiegs Chinas und der Verhärtung der russischen Politik? Diese Fragen haben Historiker, Politikwissenschaftler, Militärs und Spitzendiplomaten bei einer Tagung an der Sorbonne im November 2021 diskutiert.
Den Historikern kam dabei die Aufgabe zu, den zeitlichen Rahmen der vielfältigen Entwicklungen zu strukturieren. So gibt Georges-Henri Soutou in dem vorliegenden, aus der Tagung hervorgegangenen Band einen Überblick über die Hinwendung der NATO zu Einsätzen außerhalb der atlantischen Zone und die Annäherung Frankreichs an die NATO bis zur Rückkehr in das integrierte Verteidigungskommando. Weiterhin thematisiert er die neuen Spannungen innerhalb des Bündnisses infolge der Verhärtung der russischen Europapolitik und der Hinwendung der USA zum pazifischen Raum. Jenny Raflik-Grenouilleau zeichnet die Zurückhaltung Frankreichs gegenüber der Osterweiterung der NATO nach, von der anfänglichen kategorischen Gegnerschaft Mitterrands bis zu den Mahnungen zur Vorsicht im Hinblick auf die Beitrittsabsichten Georgiens und der Ukraine. Maurice Vaïsse skizziert den Wettbewerb zwischen der Transformation der NATO zu einer Krisen-Interventionsmacht und der Etablierung einer europäischen Verteidigung in den 1990er-Jahren. Er betont, dass mangelnde Erfolge bei der Etablierung eines »europäischen Pfeilers« (Berliner Vereinbarung über eigenständiges Operieren der WEU vom Juni 1996) zu einer Verschiebung der Rückkehr in die NATO-Kommandostrukturen bis zum März 2009 führten.
Neues erfährt man vor allem von Zeitzeugen. Alain Dejammet, Politischer Direktor des französischen Außenministeriums in den Jahren 1991 bis 1995, berichtet kurz von einer »mühsamen Verhandlung« (101) über Mitterrands Vorschlag einer »Europäischen Konföderation«, die nach anderthalb Jahren an der Ablehnung durch die mittel- und osteuropäischen Regierungen und insbesondere durch den neuen tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel scheiterte. Bertrand de Lapresle, militärischer Kommandant der UN-Mission in Bosnien 1994/95, berichtet vom beständigen Druck der Amerikaner, die Luftwaffe für die Friedensmission einzusetzen. Jean-Claude Thomann, Angehöriger der Balkan-Missionen 1994–1998, und Jean-Paul Paloméros, 1994/95 Chef des Luftwaffenbüros beim Kommando der UN-Mission in Bosnien und seit 2012 Oberkommandierender des NATO-Planungshauptquartiers, schildern, wie die Erfahrungen bei den NATO-Einsätzen in Bosnien (1995/96) und im Kosovo (1999) die französischen Militärs dazu brachten, auf die Rückkehr in die Kommandostruktur der NATO zu drängen. Erfolge setzten enge Koordinierung voraus, und Einfluss konnten die französischen Generäle nur nehmen, wenn sie integriert waren.
Hinsichtlich der Rolle Frankreichs in der NATO finden sich in dem Band unterschiedliche Einschätzungen. Der Völkerrechtler Serge Sur beklagt, dass aus dem amerikanischen Schutz ein Protektorat geworden sei. Die Europäer lebten in strategischer Abhängigkeit von den USA, die französische Rüstungsindustrie würde von den Amerikanern bekämpft, und gleichzeitig sei die Unsicherheit der Europäer durch die Osterweiterung größer geworden. Frankreich sei isoliert, ein Ausstieg aus der NATO sei aber »ebenso schwierig wie ein Verbleib« (97). Demgegenüber argumentiert der Historiker François David, dass nur ein integrierter Generalstab ein Kampfgebiet von der Größe Europas effektiv schützen könne und Frankreichs Rückzug 1966 die Fähigkeit zu sinnvoller strategischer Planung beeinträchtigt habe. Jean-Claude Thomann betont, dass die NATO-Garantie für die Sicherheit der Europäer unerlässlich sei und eine europäische Verteidigung nur innerhalb der NATO entwickelt werden könne.
Die Chancen für einen europäischen Pfeiler der NATO werden ebenfalls unterschiedlich eingeschätzt. Der Politikwissenschaftler Yves Boyer behauptet, dass französische Initiativen für eine europäische Verteidigung immer wieder an der amerikanischen Gegnerschaft und der Ablehnung durch die anderen Europäer gescheitert seien: »Das gleiche Stück wird unaufhörlich wiederaufgeführt« (159). Wie man zu einem operativen Hauptquartier auf europäischer Ebene gelangen könne, weiß er nicht zu sagen. In ähnlicher Weise argumentiert der ehemalige Außenminister Hubert Védrine, man müsse »etwas Bissigeres« finden als die Idee vom »strategischen Kompass«, etwas, »was den Europäern Angst macht und sie zugleich überzeugt«. Eine »magische Formel« dafür kann er aber nicht bieten. Er schließt nur eine Europäisierung der Atomwaffe aus, ebenso eine europäische Armee und eine europäische Föderation: Dort würden die »wesentlichen Ideen« Frankreichs überhaupt keine Rolle mehr spielen (97).
Wesentlich offensiver argumentiert der ehemalige Botschafter Michel Duclos. Für ihn liegt der strategische Schlüssel zur Lösung der Sicherheitsprobleme Frankreichs darin, dass seine Führung die Amerikaner davon überzeugen muss, dass eine europäische Verteidigung auch in ihrem Interesse liegt. Die Deutschen und die anderen Europäer würden sich erst auf den Weg in eine europäische Verteidigungsstruktur begeben, wenn die Amerikaner ihnen erklärten, dass sie auch von ihnen gewünscht wird. Die Rückkehr Donald Trumps in das amerikanische Präsidentenamt – die Duclos zum Zeitpunkt der Formulierung seines Konzepts noch nicht voraussehen konnte – bietet möglicherweise eine Chance, tatsächlich so zu verfahren.
Der Pariser Tagungsband bietet damit nicht nur partielle Einsichten in die Entwicklung der NATO und der französischen Sicherheitspolitik seit dem Fall der Mauer. Er enthält auch Anregungen, wie Frankreich und die anderen europäischen Staaten mit den aktuellen Wandlungen in der Sicherheitsfrage produktiv umgehen könnten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Wilfried Loth, Rezension von/compte rendu de: Olivier Forcade (dir.), La France et l’OTAN depuis 1989. Actes du colloque organisé par la société des Cincinnati de France, la fondation The First Alliance et l’UMR 8138 SIRICE-Sorbonne Université les 19 et 20 novembre 2021 à la Maison de la recherche de la faculté des Lettres de Sorbonne Université, Paris (Sorbonne Université Presses) 2023, 288 p. (Les Essais de la Sorbonne), ISBN 978-10-231-0747-0, EUR 9,90., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109737