In den Politikwissenschaften war es lange gängig, Entscheidungen als das Ende rationaler Prozesse zu begreifen, mit denen nach sorgfältiger und rationaler Abwägung die optimale Lösung gefunden und umgesetzt wurde. Dass das viel zu einfach gedacht war, ist seit gut zwei Jahrzehnten deutlich geworden: Es bedarf einer breiteren, etwa kulturgeschichtlichen Einbettung, die wiederum im historischen Wandel zu untersuchen ist. Den Begriff der »Entscheidungskulturen« mit deutlichem Schwerpunkt auf die Frühe Neuzeit hatte etwa ein Sonderforschungsbereich in Münster von 2015 bis 2019 zum Thema. Gerade für die vielbeackerte politische Geschichte der Zeit Otto von Bismarcks, vor allem seiner Kanzlerjahre 1871–1890, nutzt dieser von Ulrich Lappenküper (Bismarckstiftung) und Wolfram Pyta (Universität Stuttgart) herausgegebene Band seinen methodischen Ansatz. Es geht ihnen im Kern darum, wie sie einleitend formulieren, das framing von Entscheidungen besonders für Kaiser Wilhelm I. und Kanzler Bismarck aus unterschiedlichen Perspektiven in ihrer kommunikativen Ausgestaltung zum Thema zu machen und dabei auch und gerade »Bismarcks Entscheidungsmacht« als sprachlich erzeugte Handlungsmacht zu verstehen.
Die elf Beiträge des Bandes sind z. T. auf einzelne Ereignisse im Nahblick gerichtet, zumeist aber sektoral einzelnen Politikfeldern zugeordnet, wobei sich die Autoren (nur eine Autorin) vielfach ihrerseits der punktuellen Vertiefung bedienen. So gibt es etwa Beiträge über den Bundesrat – also die Vertretung der Bundesstaaten – (Oliver F. R. Haardt), Ludwig Windhorst, den entscheidenden Zentrumspolitker (Stefan Gerber), das Heerwesen (Holger Afflerbach), die Diplomaten (Friedrich Kießling), Wirtschaftsverbände (Cornelius Torp). Ersichtlich ist es ein wichtiges Ziel, die tradierte Behauptung vom entscheidenden Machtpolitiker Bismarck infrage zu stellen. Wolfram Pyta etwa diskutiert Bismarcks Kooperation mit dem nationalliberalen Rudolf von Bennigsen in der Entscheidungssituation von 1878 und mit dem Zentrumsmann Freiherr von Franckenstein 1879. Während Pyta Windhorsts Rolle in dieser Auseinandersetzung zwar als herausragend, aber doch eher als starr herausstellt, betont Gerber demgegenüber die relative Flexibilität auch in den 1880er Jahren. Hier werden jeweils Muster des wechselseitigen Aufeinanderzugehens und Aushandelns deutlich.
Mehrere Autoren halten sich nicht an die gewünschte Fokussierung auf die Bismarckzeit, sondern – als Spezialisten eher für die nachfolgenden Jahrzehnte – arbeiten den Kontrast in der dann dominierenden politischen Kultur heraus – so vor allem Afflerbach, Haardt, Kießling und Torp. Dadurch erhalten die gängigen Großzäsuren der Zeit 1871–1918, vor allem also 1890 als Jahr des Abgangs von Bismarck, wieder eine innere Stimmigkeit zugewiesen, denen andere Autoren widersprechen. Merkwürdigerweise steht am Anfang ein mit 44 Seiten ausufernder Aufsatz von Jan Markert, in dem er zu zeigen versucht, die Bezeichnung »Bismarck-Reich« sei falsch: Quellengesättigt und vor allem auf Korrespondenz Wilhelms I. gestützt, behauptet er, der Kaiser sei die entscheidende Person gewesen, Bismarcks Handlungsspielraum sei demgegenüber begrenzt gewesen. Das wird vor allem für die Zeit um 1870 gezeigt und ist so neu nicht, denn die »politikideologischen Grenzen« Wilhelms (Markert) sind immer schon betont worden. Nur spricht er diesem auch bis an die Grenze des hohen Alters eine gewisse Modernität zu, die Bismarck zum Ausführungsgehilfen herabstuft – so etwa beim Sozialistengesetz. Das lässt sich füglich bezweifeln, wenn der Autor Wilhelms eigene briefliche Selbsteinschätzung wiederholt als historisch zutreffende Aussage nimmt (mittlerweile hat Markert eine Biografie des Kaisers vorgelegt, deren Thesen zu diskutieren sein werden).
Ulrich Lappenküper stellt demgegenüber als Gegenposition thesenartig acht Ressourcen für Bismarck und dessen Rolle vor, die von seiner konkreten Machtstellung über weltanschauliche Faktoren, Kommunikationsstrategien, Erzeugung von Krisen bis zum Einsatz von Emotionen als Mittel reichen: »Wenngleich Bismarck im Zentrum der Macht stand, hatte er sehr wohl andere Herrschaftszentren und nichtstaatliche ›Kollektivakteure‹ zu beachten, den Kaiser ebenso wie den Reichstag, die Wirtschaft wie die veröffentlichte Meinung« (115). Das ist die Gegenthese zu Markert.
Den längsten, bereits genannten (und mit 50 Seiten gleichfalls ausufernden) Beitrag liefert Pyta. Ihm geht es um die Prägung des Begriffs »kompromissorientierter Konstitutionalismus«. Bei bewusster Beschränkung auf die Exekutive (also primär Kanzler) und Legislative (hier die genannten Bennigsen und Franckenstein) macht er sich daran, die Flexibilität von Bismarcks Aktionen zu zeigen, da dieser sich abwechselnd auf kooperative Teile der bürgerlichen Parteien verlassen konnte und diese Politik immer in Richtung auf eine dortige Einigung und zu erzielende Mehrheit betrieb. Das stehe gerade im Gegensatz zur nachfolgenden wilhelminischen Zeit und auch zur späten Weimarer Republik. Pyta benutzte dieses Argument an anderer Stelle, um damit auch die alte und neue Bundesrepublik ein »Musterland des Kompromisses« zu nennen (FAZ 14.11.2024). Natürlich stellt er den ganz anderen Charakter dieses spezifischen Konstitutionalismus heraus, aber der Begriff scheint mir nur nützlich zu sein, um damit gegenüber einer einseitigen Betonung des konfrontativen Stils gegen »Reichsfeinde« aller Art vorzugehen, wie es häufiger ebenso einseitig geschehen ist und noch geschieht.
Besonders anregend ist Oliver F. R. Haardts Deutung des Bundesrates. Über dieses Organ erhob sich der Kaiser vom primus inter pares im Kreis der Reichsfürsten zu einem Reichsmonarchen. Angesichts der an Stimmen nicht überragenden Stellung Preußens im Reich vollzog sich für ihn eine »Nationalisierung der Länderkammer«. Der Bundesrat wurde so schon 1880 zu einem Instrument der Reichsregierung, was zugleich den Reichstag zum entscheidenden Gegenpol zu Monarch und Kanzler werden ließ.
Einige Autoren scheinen nicht so viel mit den »Entscheidungskulturen« anfangen zu können. Kießling betont, dass Diplomaten eher zu berichten und Botschaften zu überbringen hatten, aber erst später dazu übergingen, stärker die kulturellen Hintergründen ihrer Gastländer zu erläutern; die Diplomaten seien zu Bismarcks Zeiten erheblich »ambiguitätstoleranter« gewesen als in den nachfolgenden Jahrzehnten. Torp sieht die Wirtschaftsverbände 1878–1879 eher noch in der Tradition von Freihandel und nur bedingt in der »Kultur des Kompromisses« stehen; 1902 beim neuen Zolltarif, dem Bülowtarif, sei dagegen die Exekutive tief gespalten in protektionistischer Konkurrenz gewesen. Afflerbach betont für das Heer (die Marine wird gestreift) den Primat des schnellen hierarchischen Handelns, stellt dann die Vielzahl der im Reich, aber auch in Preußen selbst konkurrierenden Institutionen eher thesenhaft vor und schließt eher mit dem bekannten Vorrang einer Kultur des Militärischen gegenüber dem Zivilen für das ganze Kaiserreich.
Erwähnt sei noch Frank Lorenz Müllers punktueller Beitrag über den 100-Tage-Kaiser Friedrich III. im Jahr 1888, der als Beleg für die relative Stabilität der informellen Verfasstheit der Bismarckzeit gilt. Ein wenig aus dem Rahmen fallen die letzten beiden Beiträge. Birgit Aschmann liefert ein engagiertes Plädoyer für eine Berücksichtigung von Emotionen in den Entscheidungskulturen nicht nur der Bismarckzeit, wenn sie mit aktuellen Eindrücken zu Wladimir Putin beginnt, aber auch Strukturen des emotionalen Verhaltens Bismarcks gegenüber dem Kaiser aus älteren Traditionen herleitet und hier und da auch Zeichen wutgeleiteten Verhaltens in seiner konkreten Politik ausmacht. Damit benennt sie eher ein vielversprechendes Forschungsfeld, als dass sie schon elaborierte Ergebnisse für die Bismarckzeit beitragen könnte. Lesenswert ist ein langer Beitrag von Peter Altmaier, der nur dem Titel nach »Entscheidungskulturen der Gegenwart« behandelt. Der ehemalige Kanzleramts- und Wirtschaftsminister unter Angela Merkel hatte sich schon zu seiner Zeit als aktiver Politiker häufig als geschichtsinteressierter Mann gezeigt. Nun nutzt er den Beitrag, seine eigenen Erfahrungen auf einem Dutzend Politikfeldern von der Bismarckzeit bis in die Gegenwart essayartig und belesen auszubreiten. Das mag für die Herausgeber ein Schmankerl sein; mit dem Thema hat das nicht viel zu tun.
Die Bilanz dieses Sammelbandes ist also die vieler ähnlicher Veranstaltungen: Es gab eine vielgestaltige und wohl auch sehr anregende Tagung, deren Vorträge nun für die Ewigkeit gedruckt vorliegen. Die Widersprüche zeugen von einer guten Debattenkultur; die Autoren nehmen jedoch aufeinander kaum Bezug, sondern bekräftigen ihre oft thesenartigen, immer gut quellenmäßig abgesicherten Erkenntnisse. Es zeichnet sich kein neues Bismarckbild ab, wohl aber eine kontroverse weitere Differenzierung.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jost Dülffer, Rezension von/compte rendu de: Ulrich Lappenküper, Wolfram Pyta (Hg.), Entscheidungskulturen in der Bismarck-Ära, Leiden (Brill Academic Publishers) 2024, 335 S. (Wissenschaftliche Reihe. Otto-von-Bismarck-Stiftung, 32), ISBN 978-3-506-79289-1, DOI 10.30965/9783657792894, EUR 55,22., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109744