Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung zu den christlichen Kirchen war lange Zeit sehr angespannt. August Bebel (1840–1913) sah 1874 Christentum und Sozialismus als sich ausschließende Gegensätze wie Feuer und Wasser. Moral gebe es auch unabhängig vom Christentum, dessen Lehren und Dogmen sich gegen die Menschen richten würden. Religion galt innerhalb der Sozialdemokratie als Privatsache, und die auch von vielen Liberalen geforderte Trennung von Kirche und Staat, insbesondere im Bereich des Bildungswesens, wurde zu einem der Programmpunkte. Die evangelischen Landeskirchen waren eng mit dem monarchischen Staat verbunden und unterstützten die Verfolgung der Sozialdemokraten. In der römisch-katholischen Kirche gab es zwar neben der kirchlichen karitativen Arbeit Ansätze, die soziale Frage zu betonen, doch blieb die Kirche insgesamt gesellschafts- und obrigkeitskonform; päpstliche Enzykliken verdammten den Sozialismus.

Diese Grundkonstellation wirkte sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Erst nach der Verabschiedung des Godesberger Programms 1959, in dem der öffentlich‑rechtliche Schutz für Religionsgemeinschaften sowie die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kirchen im Sinne einer freien Partnerschaft explizit formuliert worden war, erfolgte eine Annäherung. Dies erleichterte es der SPD, auf die Kirchen zuzugehen, und führte gerade im Katholizismus zu einer Öffnung. Angeregt von Papst Paul VI. (1897–1978) wurde im März 1964 erstmals eine sozialdemokratische Delegation im Vatikan empfangen, was großes Aufsehen erregte. Das 1965 abgeschlossene Konkordat mit dem sozialdemokratisch geführten Niedersachsen förderte diesen Prozess nachhaltig, da es Bekenntnisschulen zuließ.

Einzelne Sozialdemokraten, wie Herbert Wehner (1906–1990), Hans-Jochen Vogel (1926–2020), der als erster praktizierender Katholik 1987 SPD-Vorsitzender wurde, Hermann Schmitt-Vockenhausen (1923–1979), Heinz Rapp (1924–2007), Helmut Schmidt (1918–2015) und Georg Leber (1920–2012), erkannten hier ein Versäumnis und engagierten sich aus persönlicher Überzeugung nachdrücklich und letztlich erfolgreich in diesem Prozess. Umgekehrt setzten sich im Protestantismus wie im Katholizismus führende Persönlichkeiten für eine Öffnung gegenüber der Sozialdemokratie ein. Dadurch wurden die Vorbehalte und Angriffe von kirchlicher Seite gegen die SPD abgeschwächt, und es gelang der Partei, vor allem im katholischen Milieu deutlich an Stimmen zu gewinnen und als Volkspartei letztlich auf Bundesebene mehrheitsfähig zu werden. Zu einer gravierenden Verschlechterung der Beziehungen zwischen SPD und katholischer Kirche führten jedoch die Reformprojekte der sozialliberalen Koalition, insbesondere die langjährigen Auseinandersetzungen um die Reform des § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch).

Einer dieser im Dialog mit den Sozialdemokraten engagierten Katholiken war der Freiburger Verfassungsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019). Der Sohn eines Forstmeisters legte 1953 das juristische Staatsexamen ab und wurde 1956 in Münster zum Dr. jur. und 1961 in München zum Dr. phil. promoviert; 1964 habilitierte er sich in Münster und wurde ordentlicher Professor in Heidelberg, 1969 in Bielefeld und 1977 in Freiburg, wo er bis zu seiner Emeritierung 1995 Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie Rechtsphilosophie lehrte. Von 1971 bis 1976 gehörte er der Enquetekommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages an. Der vielfach ausgezeichnete Jurist galt als einer der profiliertesten Staatsrechtler der Bundesrepublik und war von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht. Bekannt ist das von ihm stammende Böckenförde-Diktum, das meist zusammengefasst dargestellt wird in dem Satz: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«.

Der 1967 in die SPD eingetretene Böckenförde engagierte sich 1980 gegen den in allen Vorabend- und Hauptmessen verlesenen Wahlhirtenbrief, mit dem sich die Deutsche Bischofskonferenz klar gegen den amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt und damit implizit für die Wahl des Herausforderers Franz-Josef Strauß (1915–1988) von der CSU ausgesprochen hatte. Zudem beriet er Schmidt u. a. für dessen Grundwerterede und Regierungserklärung 1976 sowie für die Rede auf dem Katholikentag zwei Jahre später. Schmidt übernahm das zu diesem Zeitpunkt noch wenig öffentlich bekannte Böckenförde-Diktum weitgehend.

Es ist ausgesprochen erfreulich, dass die in Paris lehrende Germanistin Sylvie Le Grand in ihrer Habilitationsschrift die Bedeutung Ernst-Wolfgang Böckenfördes als Vermittler zwischen Sozialdemokratie und römisch-katholischer Kirche herausarbeitet. Dafür hat sie neben den Veröffentlichungen Böckenfördes dessen Nachlass im Bundesarchiv Koblenz sowie den Nachlass seines Lehrers Carl Schmitt (1888–1985) im Landesarchiv Nordrhein‑Westfalen und umfassende Unterlagen im Archiv der sozialen Demokratie zum Verhältnis SPD und Kirchen ausgewertet. Sie arbeitet neben der bereits bekannten Bedeutung Böckenfördes als Public Intellectual gerade sein Engagement als Sozialdemokrat erstmals so deutlich heraus. Dabei schildert sie dessen vielfältige Kontakte zu führenden Sozialdemokraten und insbesondere zu dem Referenten für die katholische Kirche beim SPD‑Parteivorstand Burkhart Reichert (1938–2003). Neben dem katholischen Kontext und dem Staatsverständnis Böckenfördes arbeitet Le Grand gerade dessen Selbstverständnis als Vermittler zwischen Katholizismus und SPD wie zwischen Religion und Politik, zwischen (katholischer) Kirche und Welt insgesamt heraus. Er wollte die von seinem Münsteraner Lehrer Joachim Ritter (1903‑1974) formulierte »Entzweiung« verfassungstheoretisch und ekklesiologisch vermitteln.

Sylvie Le Grand präsentiert damit auf aktuellem Forschungsstand neue Erkenntnis zu Ernst-Wolfgang Böckenförde, die in die noch immer ausstehende umfassende Biografie dieses anregenden Juristen und Denkers einfließen werden. Zu wünschen ist, dass auch eine deutschsprachige Ausgabe dieser lesenswerten Studie publiziert wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rainer Hering, Rezension von/compte rendu de: Sylvie Le Grand, Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019), médiateur entre catholicisme et social-démocratie. Une pensée théologico-politique, Paris (Les éditions du Cerf) 2023, 468 p. (Cerf patrimoines), ISBN 978-2-204-14027-0, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109745