Die an der Universität Gießen eingereichte, komparatistische Dissertationsschrift stellt in fünf empirischen Kapiteln eine Vielzahl von Medienberichten und anderen öffentlich zugänglichen Quellen vor. In fünf Theoriekapiteln greift sie zudem auf ein breites Spektrum analytischer Werkzeuge und theoretischer Bausteine zurück – von Michel Foucaults Diskursanalyse über Anleihen bei der Erinnerungs- und Emotionsforschung bis zu der für die Arbeit zentralen postkolonialistischen Perspektive. Untersuchungsgegenstand sind jene großen postkolonialen Themen, die seit den späten 1990er-Jahren nicht nur, aber besonders in der deutschen und französischen Presse diskutiert werden: Anerkennung kolonialen Unrechts, Reparationsforderungen, Repatrierung menschlicher Gebeine, Restitutionen von Objekten kolonialer Provenienz und Entschuldigungen für Verbrechen der Kolonialzeit. Der »Fokus« liegt auf »dem Algerienkrieg in Frankreich und dem Genozid an den OvaHerero und Nama in Deutschland« (444), er ist kein historischer, sondern ein erinnerungspolitischer, insofern die »Verwendung von Vergangenheitsbezügen« analysiert und auf ihre »emotionalen Implikationen« hin befragt wird (13). Als »zentrales Quellenkorpus« werden »Zeitungsartikel, parlamentarische Debatten, Kleine und Große Anfragen an die Regierungen, Pressemitteilungen und öffentliche Reden« herangezogen (82‑83), die mit Unterstützung der »qualitativen Analysesoftware MAXQDA« (151) ausgewertet wurden.
Der Ausgangspunkt der »an der Schnittstelle zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften« verorteten Studie (5) ist die Beobachtung, dass »Emotionalität zwar« häufig benannt wird – hier also »die mit der Vergangenheit in Zusammenhang stehende Emotionalität« –, jedoch »bisher kaum zum Gegenstand einer systematischen Analyse gemacht« wurde (4). Damit liegt tatsächlich ein Desiderat vor, das angesichts des vor über zwei Jahrzehnten proklamierten emotional turn und einer anschließenden regen Zunahme der Erforschung von Emotionen und Affekten eigentlich erstaunlich ist – zumal es nicht nur die Erinnerungsforschung, sondern auch andere Bereiche der Sozial- und Geisteswissenschaften betrifft.
Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, dass der Versuch, Erinnerungs- und Emotionsforschung zusammenzubringen, stärker auf Angebote der etablierten Forschung zurückgegriffen hätte. Um ein Beispiel zu nennen: das mit dem Namen des Politikwissenschaftlers Simon Koschut verbundene Konzept des emotional othering hätte im Sinne der Fragestellungen und Zielsetzung der Arbeit solides Handwerkszeug für die Analyse bereitstellen können. Denn der Umgang mit Emotionen, die in Presseartikeln entweder unbewusst geäußert oder bewusst eingesetzt werden, bleibt in den empirischen Kapiteln der Dissertationsschrift seltsam abstrakt – so als hätte die Analyse im Vorfeld bei der Arbeit mit der Software stattgefunden und als würden in der Arbeit nur die Ergebnisse präsentiert. Um eins von vielen Beispielen zu nennen: der von Staatsministerin Cornelia Pieper 2011 ausgelöste »Eklat« wäre ein guter Anlass gewesen, das komplexe Wechselspiel von Erwartungen und enttäuschten Erwartungen, von Beschämung und Zurückweisung der Beschämung auf beiden Seiten zu diskutieren und den Einsatz von konkreten emotion discourses in den Texten unter die Lupe zu nehmen. Stattdessen wird mitgeteilt, dass der »Eklat« »mit den emotionalen Diskursen der ›Empörung‹ und ›Scham‹, aber auch der ›Irritation‹ und ›Wut‹ besetzt« werde (298) und sich im Übrigen darin einmal mehr ein »asymmetrisches Machtverhältnis« ablesen lasse (299). Das kann man glauben oder nicht. Oftmals lässt die Lektüre der zugrunde gelegten Zeitungsartikel durchaus andere Interpretationen zu. In diesem konkreten Fall wird zum Beispiel in der Berichterstattung nicht immer klar, ob die Störungen und Unterbrechungen, die zu dem »Eklat« geführt haben, von der Delegation aus Namibia oder von aktivistischen Gästen oder von beiden ausgingen. In einem Artikel in der taz (30.9.2011) beispielsweise, der nicht in das Korpus aufgenommen wurde, werden die »namibischen Delegierten« diesbezüglich nicht vor Kritik abgeschirmt.
Hier kommt allerdings einmal mehr die politische Ausrichtung der Arbeit zum Tragen, die als eine von vier Zielsetzungen ausdrücklich »Anregungen für eine Provinzialisierung (Chakrabarty 2010 [2000]) europäischer Erinnerungspolitiken liefern« möchte (4). Das Verhältnis von »erkenntnisleitende[n] Forschungsfragen« und »Zielen/Anliegen« ist in dieser Arbeit insofern typisch postkolonialistisch, als Forschungsfragen aus solchen normativen politischen Zielen abgeleitet werden. In diesem Sinne sollen beispielsweise »Emotionen« deshalb »in die Erforschung von Erinnerungspolitiken« integriert werden, »um deren Funktion in der Herstellung und Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen herauszuarbeiten« (4) – und nicht beispielsweise um Wechselwirkungen zwischen Emotionen, Werten und Identitäten zu beleuchten oder Emotionen als Form des Wissens und des bewertenden Denkens in den Blick zu nehmen, um nur einige der in der Emotionsforschung entwickelten Arbeitsfelder zu nennen. Man könnte hier also einwenden, dass die »postkoloniale Perspektiverweiterung« (4) in der Analyse der Untersuchungsgegenstände de facto eine typisch postkolonialistische Perspektivenverengung darstellt.
Wie oft in postkolonialistisch grundierten Arbeiten besteht auch hier eine ungelöste Spannung zwischen konstruktivistischen und normativen Ansprüchen, die als Vermächtnis von Edward Said betrachtet werden kann. Denn dieser hatte schon in Orientalism (1978), der als Grundlagentext postkolonialistischen Denkens geltenden Studie, gleichzeitig vom Orient als einem ideologischen Konstrukt des Westens und von den falschen Repräsentationen dieses Orients gesprochen. In diesem Sinne wird in der Dissertationsschrift immer wieder der »Konstruktionscharakter« vorgefundener Phänomene und der eigene konstruktivistische Zugang betont (2, 3, 5 u. ö.), gleichzeitig finden sich jedoch bis auf der Ebene des Forschungsdesigns postkolonialistische normative Setzungen und Wertungen, die mit konstruktivistischen Ansprüchen nicht kompatibel sind.
Dennoch handelt es sich insgesamt um eine verdienstvolle und ambitionierte Dissertation, die auf der Grundlage eines breiten Materialkorpus und einer Fülle von Details zeigen kann, wie sich der Stellenwert der jeweils unterschiedlichen kolonialen Vergangenheiten Deutschlands und Frankreichs in medialen Verhandlungen seit den 1990er Jahren verändert hat. Besonders interessant sind im Vergleich zutage tretende Unterschiede, wie etwa die Beobachtung, dass sich in der deutschen Debatte häufig eine »ablehnende Bewertung des kolonialen Systems ausdrückt, wie sie in der französischen Berichterstattung kaum zu finden ist« (343). Denn in Generalisierungen postkolonialistischer Ansätze geht ansonsten, anders als in dieser Dissertation, allzu oft verloren, dass in Europa von »unterschiedlichen erinnerungspolitischen Voraussetzungen« auszugehen ist, die auf »historisch unterschiedliche koloniale Erfahrungen« (11) zurückgehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Monika Albrecht, Rezension von/compte rendu de: Sahra Rausch, Emotionen in der postkolonialen Erinnerungspolitik. Deutschland und Frankreich seit den 1990er-Jahren, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2023, 512 S. (Medien und kulturelle Erinnerung, 10), ISBN 978-3-11-101848-5, EUR 119,95., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109751