Der hier besprochene Band gehört zu einer Handbuch-Reihe von De Gruyter und setzt die Thematik von kollektiven Traumata und kultureller Erinnerung mit einem weiteren Sprachraum fort. Auf den 2020 erschienenen Sammelband Trauma y memoria cultural. Hispanoamérica y España folgt Traumatisme et mémoire culturelle. France et espaces francophones: ein »Handbook«, das einen umfangreichen, aber sehr leserfreundlichen Einblick in »francophone« Erinnerungskulturen seit dem Ersten Weltkrieg bietet. Dem (umstrittenen) Konzept der »Francophonie« ist ein eigenes Kapitel, verfasst von Isaac Bazié, gewidmet, die den Begriff unter das Vorzeichen eines Aufbrechens des literarischen französischsprachigen Kanons und seiner Infragestellung durch eine »Beschwörung der Vergangenheit« (531) stellt. Diese »Vergangenheitsbewältigung«, um ein deutsches Schlagwort zu bemühen, erlaube es massive kollektive, institutionelle wie kulturelle Gewalterfahrungen generationenübergreifend, transkolonial und transkulturell zu konfrontieren oder als Hintergrundwissen (toile de fond) zu verarbeiten. Die Thematisierung kollektiver Traumata sei mittlerweile ein Schlüssel für Publikumserfolg wie für literarische Anerkennung durch renommierte Preise – eine paradoxe Kanonisierung, die das Label der »Francophonie« selbst in Frage stellt und stattdessen die Aufnahme in die Weltliteratur anstrebt.
Auch wenn die literarische Durchdringung von gesellschaftlichen Traumata das zentrale Thema sind, so untersuchen die insgesamt 33 Beiträge auch Erinnerungsarbeit im Film sowie – als punktuelle Ergänzungen – in Fotografie, Malerei, Museen und Gedenkzeremonien. In einem ersten Teil, der überblickartig den state of the art der Traumaforschung in Philosophie, Psychologie und Psychiatrie sowie Anthropologie im »Zeitalter der Vulnerabilität«1 zusammenfasst, zeigen Isabella von Treskow, Angela Kühner, Nathalie Maillard und Boris Cyrulnik, dass kulturelle Traumata stark individuell verankert sind. Leider fehlen biografische Notizen, die es erlauben würden, die Autoren und Autorinnen und ihre jeweilige Expertise einzuordnen, aber die exzellenten bibliografischen Übersichten (dem Handbuchcharakter gerecht) zeigen, dass die Autoren und Autorinnen das wissenschaftliche Feld seit langem beobachten und mitgestalten.
Aufgefächert nach der Art der historischen Gewalterfahrungen (Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Shoah) konzentriert sich der zweite Teil (15 Beiträge) auf Frankreich. Um die Forschung zu diesem Riesenfeld überschaubar und vermittelbar zu machen, werden Beispiele herausgegriffen, die »metonymisch und in gewisser Weise willkürlich an Stelle des gesamten Diskurs stehen«, wie Jonas Hock, bezogen auf Sartre, Levinas und Blanchot für die Philosophie der Nachkriegszeit, behauptet (188). Trotz dieser beschränkten Werksauswahl finden sich in weiteren Medien gewisse Schwerpunkte wieder: ein Fokus auf Poesie, Bildkunst und Comics für den Ersten Weltkrieg; Film und »Zeitzeugenliteratur« (literature de témoignage) für den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Zusätzlich werden Comic und Comicroman in Silke Segler-Meßners Beitrag zur »Postmémoire« aufgegriffen, in dem sie sich an dem von Marianne Hirsch geprägten Begriff orientiert, der es erlaubt, die Erinnerungsarbeit späterer Generationen zu untersuchen.
Die drei folgenden Teile mit 14 Beiträgen untersuchen »französischsprachige Räume« (Espaces francophones) – wobei diese auch Frankreich selbst inkludieren. »Erinnerungsverknüpfungen« zwischen den verschiedenen Gewalterfahrungen (noeuds de mémoire), wie Michael Rothberg sie genannt hat, werden in der Einleitung erwähnt (4–5), aber nur einmal – am Beispiel des Films Muriel ou le temps d’un retour von Alain Renais (1963), der sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch den Algerienkrieg thematisiert (212).
Dekolonisierung wird teils aus Perspektive der Metropole beleuchtet, so in Delphine Robic Diaz’ Beitrag über den Indochinakrieg, wie er von französischen Veteranen gefilmt und von deren Schuldgefühlen getragen wurde. In weiteren Beiträgen werden kulturelle Erinnerungsarbeit in der kongolesischen und v. a. maghrebinischen Gesellschaft erfasst und die innerstaatliche Gewalt der letzten Jahrzehnte in Ruanda, Haiti und Kanada mittels (Zeitzeugen-)Literatur und Film untersucht. Der letzte Teil thematisiert Frankreich als Migrationsgesellschaft und insbesondere die Überlappung von Vergangenheit und Gegenwart durch Traumata und Differenzerfahrungen beispielweise in der littérature beur und im Rap.
Die vielfältige Herangehensweise des Bandes erlaubt es, eine gängige Chronologie für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialzeit, wie sie 2008 von den Historikern Nicolas Bancel und Pascal Blanchart vorgeschlagen wurde, zu relativieren und zu erweitern. Diese hatten zwischen drei Phasen unterschieden: »L’invisible (1962–1992), ce passé est devenu tangible (1992–2002), puis complètement visible et récurrent au sein de la société française (2002–2008)«.2 Der vorliegenden Publikation gelingt es zudem, über »Frankreich und seine Geschichte« (so der Untertitel von Blancharts und Isabelle Verat-Massons Buch Guerres de mémoire) hinauszugehen und andere französischsprachige Geschichten über diverse Medien wie Literatur und Erzählungen, Musik, Film und Fotografie zu erschließen.
Handbücher sind in erster Linie gedacht, um Studierenden, Forschern und Forscherinnen einen raschen Einstieg zu ermöglichen. Die kurzen Abstracts sind dafür hilfreich, werden aber dem Reichtum der Argumentation, der Theoretisierung und der vielen Beispiele nicht gerecht. Die jeweiligen Beiträge sind kurz und knackig, wurden aber mit sehr nützlichen Querverweisen ausgestattet. Diese, sowie drei detaillierte Indexe (zu Themen/Konzepte, Namen und Orten) erlauben es, teils unerwartete Verbindungen zwischen den Beiträgen herzustellen. So findet sich der Autor und Filmregisseur Mehdi Charef beispielweise in den Beiträgen von Hans-Jürgen Lüsebrink (über die Figur des Intellektuellen und die Erzählkunst), Isabelle Galichon (über post- oder »retrokoloniale« autobiografische Aufarbeitungen) und Isaac Bazié (über die Francophonie, s. o.) – zugleich wird verwiesen auf das Kapitel von Catherine Milkovitch-Rioux über den Algerienkrieg in der Literatur von den 1950er- bis in die 2010er-Jahre. Auch Konzepte wie »Differenz« oder »Verantwortung«, oder Themen wie »Kindheit« sind im Index aufgelistet, so dass sich Leser und Leserinnen einen eigenen Weg durch das Buch bahnen können.
Das einzig abschreckende Element an diesem Buch ist sein Preis, aber es ist zu hoffen, dass öffentliche Bibliotheken und Konsortia in ihren packages diese Publikation beachten oder hinzukaufen. Sie ist ein Muss für die Erinnerungsforschung.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sonja Kmec, Rezension von/compte rendu de: Silke Segler-Meßner, Isabella von Treskow (dir.), Traumatisme et mémoire culturelle. France et espaces francophones, Berlin, Boston, MA (De Gruyter) 2023, 558 S., 8 ill. (De Gruyter Handbook), ISBN 978-3-11-035584-0, DOI 10.1515/9783110420746, EUR 174,95., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109755