Der Sammelband Europe Votes bietet einen umfassenden Rückblick darauf, wie sich der Wahlkampf zum Europäischen Parlament in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft/Union seit 1979 entwickelt hat. Eingebettet werden die Beiträge jeweils in ihren nationalen Kontext, begleitet durch die Analyse von europäischen und nationalen Umfragewerten, was die Lektüre umso spannender macht. Zwanzig Experten erforschen die Entwicklungen in neun Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich, Griechenland, Spanien, Schweden, Tschechische Republik und Ungarn) von der jeweiligen ersten Wahl bis zur neunten und vorletzten Wahl im Jahr 2019.

Finanziert wurde das Projekt durch die Europäische Beobachtungsstelle für Wahlen EEMC, die Forscherinnen und Forscher für politische Kommunikation aus allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammenbringt und sich dem Sammeln und Zusammenstellen von Wahlkampfmaterial vergangener und bevorstehender Europawahlen mit dem Ziel widmet, dieses zu archivieren und für heutige und künftige Generationen zum Studium zur Verfügung zu stellen. Der Band steht kostenfrei im Internet zur Verfügung.1

In Ihrer Einführung (18–25) geben die Herausgeber Dominic Wring und Nathan Ritchie einen Blick auf die Zeit nach 1945. Sie schlagen hier einen Bogen von ersten Einigungsbemühungen, unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Modellen und europäischen/nationalstaatlichen Motiven, eine europäische Integration voranzutreiben. Kern- und Schlusspunkt der Einführung bildet die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 mit ihrem Anspruch, als wirkliche europäische Wahl wahrgenommen zu werden. Durch eine hohe Wahlbeteiligung sollte die Legitimität der europäischen Institutionen betont und das Problem des Demokratiedefizits abgemildert werden. Die Wahlbeteiligung enttäuschte viele Beteiligte, dennoch konnte in den Augen der Akteurinnen und Akteure durch die Wahl eine Art »Volksvertretung« etabliert werden.

Es folgen Länderstudien, die durchweg konzise geschrieben sind. Betrachtet werden hier in der gegebenen Kürze der Aufsatz von Christina Holtz-Bacha über die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland als Beispiel für einen Gründungsstaat der EGKS; der Aufsatz von Bengt Johansson über Schweden als ein Land der Norderweiterung; und der Aufsatz von Marcela Konrádová und Anna Shavit über die Tschechische Republik als ein Beispiel für die Osterweiterung.

In ihrem gewinnbringenden Beitrag über die deutschen Europawahlkämpfe und die dazugehörigen Wahlplakate und ‑slogans kann Holtz-Bacha deutlich machen, dass Europathemen mit nationalen Persönlichkeiten verknüpft wurden. Dies ist insofern spannend, da oftmals argumentiert wurde, dass Europawahlen eben keine »eigenen« Wahlen seien. Hier lässt Holtz-Bacha weiterdenken, indem Sie die Wahlslogans der Parteien, die zur Europawahl antraten, seit 1979 analysiert, mit Bildquellen stützt und so ein differenzierteres Bild zeichnen kann. Gerade bei den Parteien, die nicht dem etablierten Parteiensystem seit Gründung der Bundesrepublik angehörten, gibt Holtz-Bachas Blick ein gutes Gespür dafür, was z.B. Grüne seit den 1980er-Jahren für geeignete Themen hielten, um ins Europäische Parlament einzuziehen. Auch die zu Beginn eingenommene und inszenierte Oppositionsfunktion der PDS und ihrer Nachfolgerin Die Linke kann Holtz-Bacha durch ihre Analyse deutlich machen. Gleiches gilt für europakritische und europafeindliche rechte Strömungen, die mit den etablierten Parteien und einem positiven Europabild konkurrierten.

Johansson schildert in seinem Beitrag die Entwicklung Schwedens in der EU seit 1995. Das Land war nie, so kann der Autor überzeugend darlegen, zu 100 % von einer intensiven Integration überzeugt. Obwohl in den 2000er-Jahren die Wahlzahlen in Schweden die in anderen europäischen Staaten überholten und im Trend ein positives Bild der EU-Mitgliedschaft auszumachen ist, bleibt die schwedische Bevölkerung positiv kritisch eingestellt. Es zeigt sich in den Wahlkämpfen, dass – im Unterschied vielleicht zu Deutschland oder anderen traditionellen Mitgliedstaaten – die Pragmatik im Vordergrund steht, schwedische Interessen im europäischen Kontext durchzusetzen. In Schweden ist somit, so lassen sich die Ausführungen Johannsons lesen, ein überschwänglicher symbolischer proeuropäischer Wahlkampf nicht zu denken.

Konrádová und Shavit bieten mit ihrer Analyse wiederum einen ganz anderen Blick auf Europa als Wahlkampfthema. Hier fällt, neben einem größeren Europaskeptizismus der letzten Jahre – besonders – ähnlich wie in Schweden, der Pragmatismus auf. Europa wird nicht – wie bei den proeuropäischen Parteien etwa in Frankreich, Deutschland, Luxemburg und in den Niederlanden – als Ganzes aufgefasst. In nationalen Umfragen, genauso wie in Wahlkampfstrategien der einzelnen Parteien, wird das institutionelle Europa nach seinem »Gewinn« für das tschechische Volk befragt, sei es die Verteidigung, die Wirtschaft oder auch die Kultur. Die tschechische Wahlbeteiligung liegt unter dem Schnitt der europäischen. Themen seien eher nationalen als europäischen Inhalts, so die beiden Autorinnen. Trotzdem genießen europäische Abgeordnete in ihrem Heimatland ein hohes Ansehen, gelten als fleißig und gut arbeitend. Dies kumuliert mit anderen osteuropäischen Staaten, wo der Wechsel von einem Mandat im Europäischen Parlament in die heimische Regierung und umgekehrt häufiger vorkommt als in jenen Mitgliedstaaten der EU, die als Europa der sechs begonnen haben. Vergleicht man die Aufsätze über die neuen Mitgliedstaaten mit den Texten über die etablierten Mitgliedstaaten wird ein Trend erkennbar: Schließen sich die Staaten der EU an, verfolgen sie zunächst wirtschaftliche, kulturelle und in jüngster Zeit verteidigungspolitische und migrationspolitische Ziele. Politische Souveränitätsabgabe ist in den 2010er-Jahren genauso umstritten und schwer durchzusetzen wie zu Beginn der 50er-Jahre.

Mit dem vorliegenden Sammelband liegt zum ersten Mal eine über mehrere Jahrzehnte gehende Analyse zu Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zu EU und Europäischem Parlament mit den dazugehörigen Wahlkämpfen vor. Die Expertinnen und Experten haben hier auf der Basis neuester Forschungsliteratur und nationaler Quellen Grundlagenarbeit für weitere Untersuchungen geschaffen. Dem Sammelband sei eine breite Leserschaft gewünscht!

1 Neben der eigenen Homepage des Buches https://www.europevotesbook.com/ kann das Buch im Repositorium der Loughborough University heruntergeladen werden; nach dieser Version kann es auch mit hdl-Handle zitiert werden: https://hdl.handle.net/2134/25795645.v1.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Ines Soldwisch, Rezension von/compte rendu de: Dominic Wring, Nathan Ritchie (ed.), Europe Votes. Party Campaigning in European Parliamentary Elections 1979–2019 (The European Election Monitoring Center/The Loughborough University Centre for Research in Communication and Culture) 2024, 182 p., ISBN 978-1-7384899-1-6., in: Francia-Recensio 2025/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.1.109758