Das Wichtigste sei gleich an erster Stelle herausgestellt: 80 lange Jahre waren vonnöten, bis ein deutscher Historiker (endlich) eine Gesamtdarstellung des (deutschsprachigen) »Exils« in der Zeit des Nationalsozialismus vorlegt. Eigentlich ist dieser Verzug kaum zu glauben. Als erste Gründe für die spektakuläre Blindstelle deutscher Geschichtswissenschaft wären zu nennen: die weitgehende Verdrängung von Widerstand und Exil aus dem öffentlichen Bewusstsein der Deutschen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik; dann die Komplexität der Aufgabe, die vielfältigen Wege und Schicksale der deutschen Exilsuchenden angemessen zu erfassen und auf begrenztem Raum plastisch darzustellen. Die von Wolfgang Benz vorgelegte Darstellung wird dieser Herausforderung in hohem Masse gerecht.

Seit Jahrzehnten gehört Wolfgang Benz zu den renommierten und eindrucksvoll produktiven Historikern. Er hat maßgeblichen Anteil an der Erforschung und Erklärung von Antisemitismus, Judenverfolgung, jüdischem Widerstand und Holocaust, um nur diese Hauptachse seines umfangreichen Werkes zu nennen. Dem Thema des Exils hat er sich schon in den 1980er- und 1990er-Jahren gewidmet, auch unter dem Blickwinkel der sogenannten »kleinen Leute« und ihrer Alltagserfahrungen. Manche seiner früheren Spezialthemen – etwa die »Kindertransporte« nach Großbritannien oder die Emigration europäischer Juden nach Palästina – finden sich nun in der Gesamtdarstellung wieder – ohne Zweifel mit Gewinn.

Das Buch beschränkt sich – einschließlich der durchweg instruktiven Literaturverweise – auf einen Umfang von (nur) 400 Seiten, wohl in der gutgemeinten Absicht, den Leser nicht mit dem doppelten Quantum zu erschlagen. In jedem Fall war es schwieriger zu bestimmen, was alles weggelassen werden musste, als die zahlreichen Personen, Schicksale und auseinanderklaffenden Bedingungen auszuwählen, die schließlich berücksichtigt werden konnten. Der gezahlte Preis allerdings ist hoch: Viele wichtige Episoden können nur kurz gestreift werden, andere mussten ganz unter den Tisch fallen.

Der Stoff ist gegliedert in ebenso handliche wie gut lesbare Kapitel etwa zu den Themen der frühen Fluchtbewegungen, der Vertreibung durch Diskriminierung, den Orten des Exils in Europa wie in Übersee, dem Ziel Palästina, der Literatur im Exil und schließlich der Problematik der »Remigration«.

Neben dem Zeichnen der großen Linien besteht der Kniff der Darstellung darin, verschiedene Einzelschicksale exemplarisch zu präsentieren, auch anhand von ausführlichen Selbstzeugnissen. Benz schöpft dabei aus einschlägigem Archivmaterial, auch aus Forschungsprojekten, die er als Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin über lange Jahre durchgeführt hat. All dies fügt sich am Ende zu einer facettenreichen Darstellung zusammen, die weit über eine eventuell zu befürchtende Zusammenstellung bekannter Fakten hinausreicht.

Nicht selten entwickelt Benz auch Details, die nur wenigen Lesern bekannt sein dürften. Da sind zum Beispiel die beiden britischen Internierungsschiffe – um nicht zu sagen Deportationsschiffe – mit den Namen Arandora Star und Dunera, die im Sommer 1940 ganz überwiegend mit deutschen Flüchtlingen überladen nach Übersee verschickt wurden. Das erste war auf dem Weg nach Kanada, als es am 2. Juni 1940 von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt wurde. Über die Hälfte der etwa 1500 deutschen und italienischen Internierten – zum allergrößten Teil Hitler-Flüchtlinge – fand den Tod. Die 2000 (fälschlich 7000; 145) Zwangspassagiere der Dunera kamen zwar am 6. September 1940 im Hafen von Sydney an, allerdings nach Torturen und unmenschlicher Behandlung, die bis nach London zurückschallten. Die unmittelbare Folge war ein Umschwung in der britischen Internierungspolitik. Die Überlebenden lernten nach der Hysterie über die »Enemy Aliens« – die »feindlichen Ausländer« als Vorhut einer imaginären »fünften Kolonne« – nun auch diese bessere Seite der britischen Demokratie im Krieg kennen.

Den jüdischen Flüchtlingen, die es unter unsäglichen Bedingungen 1940/41 bis vor die Küste Palästinas (viele nicht einmal bis dorthin) geschafft hatten, nützte diese Wende nichts. Die britische Mandatsmacht riegelte den Zugang zum »gelobten Land« ab und verschickte tausende von Flüchtlingen bis nach Mauritius. Einer von ihnen war Alfred Heller, friedlicher Druckereibesitzer in München, bis SA-Schergen bald nach Januar 1933 seinen Betrieb in Scherben schlugen. Für ihn wie für die meisten anderen jüdischen Deutschen trifft – wie Benz einräumt – weder der Begriff der »Emigration« noch derjenige des »Exils« im engeren Sinne zu. Der eine scheint eine Spur von Freiwilligkeit zu behalten, der andere das Ziel einer späteren Rückkehr. In Wirklichkeit handelte es sich um das Entkommen zur Rettung des nackten Lebens. Die meisten kamen nicht zurück.

Auch und gerade weil es sich um ein solides Werk von unstreitig dauerhaftem Wert handelt, sind einige der vorgenommenen inhaltlichen Akzentsetzungen zu hinterfragen. Zunächst könnte gut darüber gestritten werden, ob es tatsächlich New York ist, dem die Palme des »intellektuellen Zentrums des deutschen Exils« zuzusprechen ist. Gute Argumente sprechen eher für London als neuralgisches Zentrum in den Kriegsjahren. Die britische Hauptstadt und die dortigen Entwicklungen sind überraschend unterbelichtet, wenn ihnen nur ganze vier bis fünf Seiten gewidmet sind, mehr als der dreifache Umfang dagegen New York (wie ebenso dem in jeder Beziehung entlegenen Shanghai). Auf dem knappen Raum lassen sich weder die Lebensbedingungen noch die Entwicklung der britischen Öffentlichkeit skizzieren, schon gar nicht das (schwierige) Zusammenfinden der sozialistisch-sozialdemokratischen Emigration. Erst gegen Ende wird dieser Punkt noch einmal kurz aufgenommen, handelt es sich doch um eine der »Errungenschaften« bzw. emblematischen Lernprozesse im Exil, die entscheidend zur Neugründung der SPD Anfang Oktober 1945 in Wennigsen beitragen sollten. Ähnliches ließe sich für die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung sagen. Am Ende kommt es weniger auf den Exilort London als vielmehr auf die notwendige Einbeziehung von Widerstand und Exil der »Arbeiterbewegung« an. Seit jeher handelt es sich hier um die Schwachstelle der deutschen (Widerstands-)Geschichtsschreibung. Das Hauptinteresse Benz’ gilt – mit angebrachter Empathie – den individuellen Schicksalen der »Vertriebenen«.

Man kann sich zweitens fragen, ob das Verdikt des Autors, der Anteil des Exils »am staatlichen Neubau« der Bundesrepublik sei letztlich »sehr gering« gewesen (327), in dieser Form nicht etwas pauschal pessimistisch ausfällt. Kein Zweifel, dass Exil und Widerstand in der Nachkriegsgesellschaft stigmatisiert und bekanntlich bis in Wahlkämpfe hinein negativ instrumentalisiert wurden. »Emigration – ein Makel?« musste Egon Bahr in einem Zeit-Artikel zum nachwirkenden »Gift der Hitler-Jahre« fragen, als die Anfeindungen gegen Willy Brandt 1965 noch einmal angeheizt wurden. Und doch wurde der ehemalige Skandinavien-Emigrant vier Jahre später zum Bundeskanzler gewählt. Gleichfalls wäre an Herbert Weichmann, Hans Kühn oder den Widerstandsmann Alfred Kubel zu erinnern – um es an dieser Kategorie von Politikern festzumachen – neben den von Benz erwähnten Rückkehrern Wilhelm Hoegner und Ernst Reuter. Alle sind Ministerpräsidenten bzw. Regierende Bürgermeister geworden. Und noch ein Beispiel: Der erste Vorsitzende der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands nach dem Krieg hieß Hans Jahn. Er war es, der bis 1939/40 den Widerstand der deutschen Eisenbahner von Amsterdam, Antwerpen und Luxemburg aus zu organisieren suchte, knapp mit dem Leben davonkam und in den Kriegsjahren eine hervorragende Rolle bei der höchst aktiven Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) spielte. Wer kennt seinen Namen heute? Die Geschichte ist gewiss widersprüchlich und komplex, aber im Ganzen gibt es keinen Grund, eine gewisse Idee von Demokratie, Konzepte wie diejenigen der integrierten Volksparteien, der Einheitsgewerkschaft und auch der europäischen Integration nicht wesentlich auch dem Erbe des Exils zuzurechnen.

Das von Wolfgang Benz vorgelegte Panorama ist ohne Zweifel eine solide Referenz und ein anregender Einstieg zum weiteren Studium. Gleichzeitig bleibt auch mehr als acht Jahrzehnte nach Kriegsende eine Menge zu entdecken, aufzuarbeiten und neu zu bewerten zu den Themen Widerstand und Exil und ihren (langfristigen) Wirkungen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Andreas Wilkens, Rezension von/compte rendu de: Wolfgang Benz, Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933–1945, München (C. H. Beck) 2025, 407 S., 60 Abb., ISBN 978-3-406-82933-8, EUR 36,00., in: Francia-Recensio 2025/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.110892