Lateinamerika scheint ein gutes Pflaster für radikale wirtschaftspolitische Experimente zu sein: Heute Javier Milei in Argentinien, in den 1970er- und 1980er-Jahre die sogenannten »Chicago Boys« in Chile. Letzteren hat Sebastian Edwards, ehemaliger Chefökonom für Lateinamerika und die Karibik bei der Weltbank und mittlerweile Professor für Internationale Ökonomie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, eine interessante Studie gewidmet, die auf Archivmaterial, statistischen Untersuchungen, persönlichen Erfahrungen und Gesprächen mit einigen der beteiligten Ökonomen beruht.
Die Idee, chilenische Studenten der Wirtschaftswissenschaft an die Universität von Chicago einzuladen, damals eine Hochburg marktwirtschaftlichen und monetaristischen Denkens, entstand Mitte der 1950er-Jahre im amerikanischen Außenministerium. Die Erwartung war, dass die jungen Absolventen nach ihrer Rückkehr die Vorzüge freier Märkte propagieren und so einen Beitrag zum Kampf gegen den »Kommunismus« leisten sollten. Ihre große Stunde schlug allerdings erst nach dem Putsch einer Gruppe von Generälen um Augusto Pinochet gegen die sozialistische Allende-Regierung im September 1973 und der Errichtung einer brutalen Militärdiktatur – die »Erbsünde« des chilenischen Wirtschaftswunders, so Edwards (2). Als Erfolg sieht er das ganze Projekt nämlich schon, und die Entwicklung der wirtschaftlichen Kennziffern etwa zur Inflation, zum Wachstum oder zum Pro‑Kopf‑Einkommen scheinen ihm durchaus recht zu geben.
Seine Studie hat er in drei Teile gegliedert, die sich an den großen politischen Zäsuren orientieren. Im ersten Teil schildert Edwards die Ursprünge in Chicago, wo die ersten drei Studenten im September 1955 ihr Studium aufnahmen, bald gefolgt von weiteren sechs, darunter nur eine Frau. Immerhin zwei der insgesamt aus neun Personen bestehenden ersten Gruppe bekleideten später hohe Regierungsämter. Insbesondere Milton Friedman faszinierte die Gruppe mit seiner entschiedenen Absage an alles, was nach Planwirtschaft und Dirigismus aussah. Zurück in Chile Mitte 1958 reformierten die jungen Wilden zwar Lehre und Studium nach Chicagoer Vorbild, von gelegentlichen Kontakten zu späteren Putschisten seit Mitte der 1960er-Jahre abgesehen, konnten sie ihren Einfluss aber nicht über den »Elfenbeinturm Universität« hinaus ausdehnen. Nach der Wahl Allendes zum Präsidenten im Herbst 1970 verließen einige der »Chicago Boys« entweder das Land, um in internationalen Organisationen zu arbeiten, andere unterstützten die politische Opposition.
Der zweite Teil umfasst den Zeitraum vom September 1973 bis zum Ende der Militärdiktatur im Dezember 1989. Nach dem Putsch entwarfen die »Chicago Boys« im Auftrag der Militärjunta zügig ein umfangreiches Programm zur wirtschaftlichen Entwicklung, das u. a. die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien, die Senkung von Importzöllen, Privatisierungen und die Reduzierung der Inflation vorsah. Dieses Programm, von den Autoren wegen seines Umfangs auch »der Ziegelstein« genannt, »would guide one of the deepest economic revolutions in the developing world, the neoliberal revolution« (75). Mit der Definition des Begriffs hält sich Edwards allerdings nicht lange auf. Schon in der Einleitung schreibt er: »neoliberalism is the marketization of almost everything« (14). Ausführlich geht er in den weiteren Kapiteln des zweiten Teils auf den Einfluss Friedmans auf Pinochet ein, den er für größer hält als in der Forschung mitunter angenommen.
Im dritten Teil setzt sich Edwards mit dem Schicksal des Neoliberalismus nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 auseinander. Dass selbst »linke« Regierungen das neoliberale Projekt nicht beendeten, sondern, um einige sozialpolitische Komponenten ergänzt, zunächst sogar ausweiteten, deutet er als Beweis für die Richtigkeit der Rezepte. Heute sei der Neoliberalismus in Chile im Niedergang begriffen – allerdings weniger aufgrund fehlender Erfolge als vielmehr aufgrund der Vernachlässigung insbesondere des Problems der sozialen Ungleichheit.
Edwards wertet die Schocktherapie der »Chicago Boys« zweifellos als Erfolg. Dass dieser Erfolg unter den Bedingungen einer Militärdiktatur mit mindestens 3000 nachgewiesenen Morden – wahrscheinlich dürfte die Zahl der Opfer weitaus größer sein – zustande kam, verschweigt er nicht; gleichzeitig behauptet er jedoch: »a neoliberal economic reform of this magnitude could not have been possible under a democratic rule« (23). Gerade wenn man die Wertschätzung bedenkt, die Ludwig Erhard wegen seines radikalen Bruchs mit dem damals in den westlichen Besatzungszonen vorherrschenden wirtschaftspolitischen Kurs in diesen Kreisen genoss (20), erscheint diese Behauptung doch einigermaßen befremdlich. Ein diktatorisches Regime mit eklatanten Verstößen gegen die Menschenrechte existierte damals in den Westzonen jedenfalls nicht. Von dieser fragwürdigen These abgesehen, bietet Edwards Darstellung ein durchaus differenziertes Bild des neoliberalen Experiments in Chile.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Sebastian Edwards, The Chile Project. The Story of the Chicago Boys and the Downfall of Neoliberalism, Princeton (Princeton University Press) 2023, 376 p., 19 b/w fig., ISBN 978-0-691-20862-6, DOI 10.1515/9780691249360, USD 32,00., in: Francia-Recensio 2025/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.110916