Theorien können sich an ein Feld spezialisierter Akademikerinnen und Akademiker richten. Dann handelt es sich um akademisch-disziplinäre Theorien, die ein Forschungsdesiderat einer umgrenzten Gruppe bedienen. Oder sie können die Interessen eines weiteren Publikums aufnehmen, das Akademiker und Akademikerinnen und alle die einschließt, die eine globalere Erklärungsperspektive auf die politischen, epistemologischen und ästhetischen Probleme der Gegenwart erwarten. Diese letzteren, im emfatischen Sinne intellektuellen Theorien sind jene, die der Berliner Kulturwissenschaftler Onur Erdur zum Gegenstand theoriegeschichtlicher Betrachtung und postkolonialer Kritik macht.

In Schule des Südens fragt Erdur, inwiefern Vertreterinnen und Vertreter der »französischen Theorie«, zu denen er Pierre Bourdieu, Jean-François Lyotard, Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Hélène Cixous, Étienne Balibar und Jacques Rancière zählt, ihre biografischen Erfahrungen als pieds-noirs (Derrida, Cixous, Rancière), Wehrdienstleistende (Bourdieu, Derrida), Touristen (Barthes, Foucault), Universitätsmitarbeiter (Bourdieu, Foucault, Balibar) in Nordafrika artikulierten. In acht Porträts wird das bisweilen komplexe Verhältnis dieser Theoretiker und einer Theoretikerin zur französischen Kolonialschuld und den Dekolonialisierungs- und Antirassismusbewegungen der Zeit rekonstruiert. Ein besonderer Akzent wird auf die Frage gelegt, wie die postkolonialen Erfahrungen der Autoren und Autorin in den jeweiligen Theorien verarbeitet werden. Erdur erinnert uns an den ideologisch-biografischen Entstehungszusammenhang dieser Theorien, die die intellektuelle und interdisziplinäre Debatte der letzten Jahrzehnte bestimmt haben, und zwar speziell auch mit Blick auf die aktuell kontrovers diskutierten Fragen des Postkolonialismus.

Schule des Südens reiht sich ein in die zahlreichen Darstellungen dieser Theoretikerinnen und Theoretiker, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind. Man hätte vielleicht mehr Reflexion zum Etikett der »französischen Theorie« erwarten können, dass zumindest im französischen Kontext wohl auf eher wenig Verständnis treffen dürfte: Rancières Distanz zum Poststrukturalismus wird erwähnt, und Bourdieu würde sich wohl ungern in eine Liste von sieben »scholastischen« Philosophen und einer Philosophin stellen. Gleichwohl handelt es sich um eine ganz wunderbare Monografie, die eine neue, frische Perspektive auf diesen Theoriediskurs wie auch auf die politischen Dimensionen von Theorie im Allgemeinen wirft.

Erdur stellt kritische Fragen an Theoretiker und Theoretikerinnen, die ihre eigenen biografischen Verankerungen im maghrebinischen Raum eher ausnahmsweise und am Rande sichtbar machen. Der Autor bezieht zu den acht Theorien auf je unterschiedliche Weise Stellung. Bourdieu, Cixous und Balibar werden als radikale Vorbilder verstanden, die die postkoloniale Problematik explizit in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten gestellt haben: Bourdieu als Ethnograf der kabylisch-béarnischen Gesellschaft, Cixous als Vertreterin einer feministischen écriture-Praxis und Balibar als Pionier anti-rassistischer Theorie. Diese Gruppe ist für Erdur mehr als nur von theoriehistorischem Interesse, denn sie informiert auch die kritische Folie, die der Autor auf diese drei legt. Ihre explizit postkolonialen Analysen kontrastieren mit Rancières verdrucksten Einlassungen zu Algerien, die als verstörend empfunden werden, zumal sie den Prinzipien von Rancières eigener politischer Philosophie geradewegs entgegenzulaufen scheinen. Erdur macht Rancière zum Gegenstand einer postkolonialen Ideologiekritik, die überzeugend auf die uneingestandenen inneren Widersprüche des französischen Republikanismus hinweist und damit nicht zuletzt auch die kritischen Anstöße von Bourdieu, Cixous und Balibar aufnimmt.

Die anderen vier Theoretiker stehen zwischen diesen beiden Polen. Lyotard und Derrida wird positiv angerechnet, dass sie politisch Stellung genommen haben, ungeachtet der Schwierigkeiten, mit den eigenen Widersprüchen zurecht zu kommen. Ihr theoretisches Werk wird dann als der Versuch einer Sublimierung des eigenen politischen Traumas gelesen, die sich etwa in dem Plädoyer für Ambivalenz und Differenz manifestiert. Könnte man an diesem Punkt nicht einwerfen, dass Theorie eine gewisse Autonomie gegenüber ihren politischen Aneignungen zeigt, und zwar gerade weil sie sich ebenfalls durch Ambivalenz und Differenz auszeichnet? Umgekehrt ist doch ja auch Rancières Theorie der Gleichheit und Sichtbarkeit nicht unbedingt dadurch diskreditiert, dass Rancière selbst nicht fähig ist, diese im Sinne einer postkolonialen Kritik fruchtbar zu machen?

Es bleiben Barthes und Foucault, die zu ihren Maghreb-Erfahrungen der 1960er-Jahre wenig öffentlich verlauten ließen. Erdur würdigt ihre wegweisenden Arbeiten, die das Feld postkolonialer Forschungen geprägt haben. Die kritischen Potenziale ihrer Theorien werden dann mit dem Psychogramm von zwei sexuell aktiven Schwulen konfrontiert, die ein Bohème-Leben in einem postkolonialen Kontext führen, für den sie sich kaum zu interessieren scheinen.

Sicher ist es nicht problemlos, eine postkoloniale Kritik von außen und im Nachhinein an Diskurse heranzutragen, in denen bisweilen ganz andere Relevanzen gesetzt sind. Sollte man etwa Foucault und Barthes nicht das Recht zugestehen, sich nicht zu allen politischen Fragen äußern zu müssen? Dem kann entgegnet werden, dass der Wert, der eine intellektuelle Theorie gegenüber einer bloß akademischen auszeichnet, doch gerade in den Orientierungen liegt, die sie zu geben vermag, und zwar über verschiedene Lebensbereiche hinweg. Muss sich die »französische Theorie« nicht gerade auch den eigenen, gelebten politischen Problemen ihrer Akteure stellen?

Zu fragen ist auch, inwieweit der gewählte biografisch-hermeneutische Blick nicht den Ambitionen der »französischen Theorie« widerspricht? Weist Erdur durch seine impliziten Positionierungen nicht die Autor-Werk-Kritik zurück, wie sie etwa von Barthes, Derrida, Foucault formuliert wurde, und stellt damit die anti-humanistische Epistemologie der gesamten Generation in Frage? Wird mit der Wahl dieses methodologischen Vorgehens nicht – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – mit einer theoretischen Generation abgeschlossen?

Erdur hält ein starkes Plädoyer dafür, die Herausforderungen persönlich gelebter Politik in die Theoriearbeit einzubeziehen. Aber wie steht es um die Beobachterposition Erdurs selbst, von der man gerne mehr erfahren hätte? Wäre es nicht konsequent, die Frage nach den biografisch-politischen Hintergründen des Autors selbst zu stellen? Und müsste ich mit meiner Rezension nicht auch versuchen, dieses Buch auf seine politisch blinden Flecken abzuklopfen? Wäre es etwa legitim, Erdurs Arbeit mit Fragen zu konfrontieren, die sie nicht für relevant hält, z. B. mit der Klimakrise?

Dies sind genuine, produktive Fragen, die den hohen Wert dieses hervorragend gemachten Buchs unterstreichen, das auch nicht-spezialisierte Leser und Leserinnen mit viel Gewinn lesen werden. Reiches historisches Material, das selbst Spezialistinnen und Spezialisten viele neue Aspekte eröffnet, wird mit profunder Theoriekenntnis verwoben. Bei aller Abstraktheit der theoretischen Gegenstände gelingt es dem Autor komplexe Sachverhalte plastisch und genau darzustellen und zu einem wirklichen intellektuellen Lesespaß zu machen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Johannes Angermuller, Rezension von/compte rendu de: Onur Erdur, Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie, Berlin (Matthes & Seitz Verlag) 2024, 335 S., ISBN 978-3-7518-2020-2, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2025/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.110917