Eric Hobsbawm zieht seine Geschichte der Moderne zwischen dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 auf, unter dem programmatischen Titel (in Anschluss an Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg) Long nineteenth century. Die Probleme, mit denen die Französische Revolution rang, und die unterschiedlichen Lösungsversuche, mit denen sie zu ihren unterschiedlichen Phasen aufkam, bildeten zu weiten Teilen die Inhalte, an denen sich das moderne politisch-gesellschaftliche Denken abarbeitete. Entsprechend war die Französische Revolution als Ereignis an sich einer der zentralen Topoi der in der Moderne aufblühenden Kulturhistoriografie. Ein wesentliches Merkmal davon ist das enthusiastische Fragen nach den großen Individuen der Weltgeschichte als Repräsentanten dessen, was wirkt und was sein soll. Freilich weist gerade die Französische Revolution einige solcher Individuen auf, wobei die berüchtigtste wohl Maximilien Robespierre ist.

Die vorliegende Studie analysiert das politische Thema »Robespierre« anhand ausgewählter belletristischer Texte (mehrheitlich Theaterstücke) aus der Gründerzeit 1870–1894, also während der intensiven Realisierung deutschnationaler Staatsgedanken. Die diskutierten Texte stammen von Georg Büchner, Otto Franz Gensichen, Fritz Mauthner, Robert Hamerling, Karl Wartenburg, Karl Bleibtreu und Marie Eugenie delle Grazie. Den interpretatorischen Schwerpunkt legt der Autor auf die politische Theologie, insofern sich die Texte in ihrer Auseinandersetzung mit der Figur Robespierres – die historisch-biografisch schwer zu fassen ist, zumal sie sich bereits zu Lebzeiten zu einer mythenumwobenen Gestalt entwickelte – dezidiert gegen eine politisch-theologische Herrschaftslegitimierung aussprechen, und/oder selbst mithilfe politisch-theologischer Gedankengänge ihre Staats- und Gesellschaftmodelle entwerfen.

Der Begriff »politisch-theologisch« steht im Großen und Ganzen für die Absicht, das definitive Gute politisch zu verwirklichen, und damit die staatliche Herrschaft, die zu dieser Verwirklichung führen soll, entsprechend ihres absoluten (göttlichen) Anspruchs theologisch zu legitimieren. Das grundlegende Problem einer solchen profanierten Eschatologie liegt wohl darin, dass ein jeder Mensch fehlbar ist, respektive tatsächlich alltäglich fehlt, und damit diesem Ideal nie gerecht werden kann. Sollte an der Verwirklichung desselben festgehalten werden, erscheinen die, die sich nicht bessern lassen, als entsprechende Erzfeinde, die nur noch vernichtet werden können. Die jakobinische Phase respektive Robespierre (neben vielen anderen) geben ein erschreckendes Beispiel einer solchen ideologischen Konstellation wieder. Wie gesagt ist Robespierre selbst schwer zu kategorisieren: Während er in der Terreur die Todesstrafe exzessiv vollzog, hatte er früher noch für ihre Beilegung plädiert; während er als der »Unbestechliche« kompromisslos für die égalité und die Soziale Frage eintrat, stand er später letztlich als Alleinherrscher vor. Sein von ihm geförderter »culte de l’Être suprême« verweist auf die anthropologisch-religiöse Komplexität menschlicher Gesellschafts- und Staatsstrukturen. Seine Gefolgschaft sah in ihm einen Mittler zwischen Himmel und Erde, eine Inkarnation des politisch-moralischen Gelingens, einen Messias und Märtyrer der Revolution; seine Gegner sahen in ihm die personifizierte Hybris und Heuchelei. Die Studie zeigt, wie die besprochenen Texte mit dieser komplexen theologischen Situation umgehen, indem sie zum Beispiel Robespierre auffallend oft mit Konzepten aus der hebräischen Bibel und mit Jesus Christus vergleichen.1

Weiterführend stellt die Studie diese theologische, philosophische und politische Auseinandersetzung mit der Person Robespierres in den weitreichenden ideen- und mentalitätshistorischen Kontext der deutschnationalen Gründerzeit, die sich gerade im Zuge ihres zentralen politischen Ereignisses, dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71, intensiv mit der Französischen Revolution auseinandersetzte, insofern die französische Nation hundert Jahre vorher vor ähnlichen politisch-gesellschaftlichen Problemen stand, wie nun die deutsche. Vor chauvinistischem und entsprechend geschichtsmythologischem Hintergrund versuchen einige der Texte, das politische Gelingen des Staats und das moralische Gelingen der Gesellschaft zugunsten Deutschlands zu entscheiden: Frankreichs Geschichte weise konstant das leidenschaftliche Streben nach Ruhm auf, weswegen seine politische Emanzipationen in der Regel in die Despotie Einzelner und deren religiöse Verehrung durch die »Masse« geführt hätten; Frankreich lebe noch immer den Cäsarenwahn der römischen Antike, von der es herkomme und auf die es sich selbst ja immer wieder berufe; Frankreichs Versuch zur Realisierung des politisch-gesellschaftlichen Guten sei eine gewalttätige »totalitäre Revolution von unten«, während Deutschland mit seiner »liberalen Reform von oben« durch politisch-philosophische »Genies« dem Ziel qualitativ näher komme; weil die Französische Revolution letztlich nur den Weg für den Tyrannen Napoleon bereitet hätte, der die deutschsprachigen Länder überfiel, käme Deutschland nun das Recht zu, im Kampf gegen Frankreich seinen politisch-ideologischen Willen militärisch durchzusetzen.

Die Studie legt ausführlich dar, wie die besprochenen Texte dieses nationalistische Narrativ wiedergeben und/oder wie sie an einer kulturhistorischen und ideologischen Wertschätzung der Französischen Revolution arbeiten. Darunter fällt beispielweise die Aufwertung Dantons oder Mirabeaus als Realpolitiker mit entsprechender Milde gegenüber dem an der Strenge der Tugend irre gewordenen Robespierre. Neben den besprochenen Texten weist die Studie hierbei auf weitere Ansichten aus der deutschsprachigen Literatur- und Philosophieszene der Zeit hin, etwa jene Walter Benjamins, Stefan Zweigs und Thomas Manns.2

Weitere Exkurse und Verweise gelten den komplexen philosophischen Konzepten und den diese begründenden Personen als zentralen Bestandteilen der Französischen Revolution sowie der modernen Kulturhistoriografie. Zur Sprache kommen Rousseau, Schiller, Hegel und der Hegelianismus, Marx und der Sozialismus, Bakunin und der Anarchismus, Carlyle, Cousin, Quetelet und Nietzsche. Eine grundlegende Frage, um die sich die Schriften dieser Personen drehen, liegt darin, wie das politisch-gesellschaftliche Gute in der Weltgeschichte verwirklicht werde; eine Frage, die aufgrund der bürgerlichen Emanzipation unter gleichzeitigem Terror angesichts der Französischen Revolution immens an Kontroverse gewinnt. Eine weitere grundlegende Frage betrifft hierbei das Konzept, inwiefern es die »heldenhaften« Menschen, die »großen Personen« seien, die den Weltgeist repräsentieren, das Gute verkörpern und das Gericht vollziehen. Die moderne Kulturhistoriographie kam hierbei wiederholt mit ästhetischen – dramatischen – Erklärungsmodellen auf, weswegen sich auch die Wahl von Theatertexten in der vorliegenden Studie gut nachvollziehen lässt.3

1 Vgl. die zahlreichen Belegstellen: 27, 29–31, 61, 65–66, 68–70, 72–73, 80, 92, 94, 104–107, 139–141, 143, 145–146, 153–156, 159–162, 164–169, 172–173, 180–181, 183–184, 210, 216–218, 240–241, 256–258, 261, 264–265, 295, 297–301, 316–317, 330, 332–333, 337, 339–341, 343–345, 348–351, 362, 364, 370–371, 375–376, 378, 385, 389–390, 400–403.
2 Vgl. 17, 19–21, 25–26, 41, 51–52, 55, 68–70, 84–86, 92, 94, 106–107, 110–115, 126–133, 136–137, 139–145, 148–149, 151, 157–159, 172–175, 180–181, 188–189, 196–197, 202–203, 205, 209, 218–219, 224–226, 228–233, 236, 241, 250–251, 259, 263–267, 271–272, 277, 283, 293–294, 297–298, 316–317, 332–334, 337, 343–345, 348, 350–351, 410, 412–414, 416.
3 Vgl. 17, 19–20, 33–41, 48–51, 55–57, 59–63, 84–86, 94, 103, 106, 117–125, 138, 151, 157–158, 175, 179, 184–189, 192–199, 205–210, 216, 225–226, 233, 236, 251–252, 255–258, 261, 280, 284, 293–294, 299–300, 303–307, 315–317, 325–334, 339–341, 343–345, 347–349, 364, 390, 397–398, 400–403.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Andreas Burri, Rezension von/compte rendu de: Michiel Rys, Der Mythos des Unbestechlichen. Maximilien Robespierre und das Fortleben des Politisch-Theologischen in der deutschsprachigen Literatur der Gründerzeit, München (Herder) 2024, 444 S., ISBN 978-3-534-64011-9, EUR 56,00., in: Francia-Recensio 2025/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.110931