Unter dem auch in deutscher Übersetzung ebenso vieldeutigen wie programmatischen Titel Ces femmes qui comptent (»Frauen, die zählen«) hat Marianne Thivend eine äußerst lesenswerte Studie zur Geschichte der kaufmännischen Mädchen- und Frauenbildung in Frankreich von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Im Vordergrund stehen das Wirken von zwei äußerst einflussreichen Pädagoginnen, Élise Luquin und Marguerite Malmanche, und das von ihnen aufgebaute umfassende Bildungssystem zur Qualifikation von Frauen für zeitgenössische Berufsfelder in Wirtschaft und Handel.

Für ihre Untersuchung verknüpft Thivend mehrere Forschungsfelder, die selten gemeinsam untersucht werden: technische Bildung, Mädchenbildung, Frauenarbeit und Geschichte der Buchhaltung. Der Fokus auf die Buchhaltung ist ein geschickter Schachzug, um der Festlegung auf entweder besonders prestigeträchtige Berufszweige – wie Medizin – oder deklassierte, als »typisch weiblich« konnotierte Arbeitsbereiche wie das Maschinenschreiben und Sekretariatstätigkeiten zu entgehen. Auch trägt der Fokus auf die Buchhaltung der gerade in ihrer Selbstverständlichkeit häufig wenig beachteten weiblichen Berufstätigkeit in familiengeführten Unternehmen wie Handwerksbetrieben oder dem Detailhandel Rechnung. Um ein möglichst umfassendes Bild zu zeichnen und einer männlich geprägten Verzerrung der Überlieferung zu entgehen, zieht Thivend eine Vielzahl von Quellen aus einer ganzen Reihe von Archiven heran: Handelsverzeichnisse, Syndikatsberichte, Visitenkarten, Arbeitsgerichtsurteile, Heiratsregister, Presseberichte, Protokolle von Feministinnenkongressen sowie nicht zuletzt Personalakten der beiden Banken Société générale und Crédit lyonnais. Damit kann sie zum Teil ausgleichen, dass kaum persönliche Überlieferung zu ihren beiden Protagonistinnen vorhanden ist (von Élise Luquin existiert nicht einmal ein Foto); sie werden vor allem durch ihre Publikationen und das Nachzeichnen ihres Wirkens lebendig.

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Das erste untersucht die bahnbrechende Gründung des Cours Lyonnais im Jahr 1857, der von Élise Luquin mit der Unterstützung lokaler Sozialreformer ins Leben gerufen wurde, und der sich rasch zu einem umfassenden Bildungsangebot für Mädchen und Frauen entwickelte, da dort auch Inhalte des Elementarunterrichts nachgeholt werden konnten. Im zweiten Kapitel kartiert Thivend das Feld weiter, indem sie die Vielfalt von lokalen Initiativen ans Licht holt, die bis in die 1880er-Jahre ein ökonomisches Bildungsangebot für Mädchen und Frauen entwickelten. Das dritte Kapitel fokussiert wieder stärker auf Élise Luquin in Lyon und Marguerite Malmanche in Paris (eine Absolventin der Kursen Luquins), die zu Inspektorinnen der kaufmännischen Mädchenbildung berufen wurden und auch auf nationaler Ebene eine wichtige Rolle einnahmen. Dabei macht die Verfasserin deutlich, dass beide Protagonistinnen sich sehr darum bemühten, die Ausbildung von Mädchen und Frauen in die Bewegung zur Institutionalisierung der Berufsbildung zu integrieren und ihr so weitergehende Anerkennung zu verschaffen. Im vierten Kapitel werden ihre intellektuellen und pädagogischen Ambitionen anhand der Veröffentlichung von Lehrbüchern und der Entwicklung von Ausbildungsprogrammen analysiert und mit den Realitäten im Klassenzimmer konfrontiert. Das fünfte Kapitel schließlich untersucht die sozialen und geschlechtsspezifischen Auswirkungen der kaufmännischen und buchhalterischen Ausbildung, indem es den Absolventinnen mittels der Rekonstruktion von Lebensläufen zu folgen versucht. Allerdings wird an dieser Stelle deutlich, dass auch hier die Frauen häufig im Schatten der Männer verschwanden und über offizielle Quellen wie Heiratsurkunden oder Volkszählungen hinaus kaum als Handelnde sichtbar gemacht werden können.

Mit ihrer Untersuchung löst Thivend zum einen das eingangs formulierte Postulat ein, sich dem Zentrum über die Ränder zu nähern. Sie macht deutlich, wie sich das Berufsbild des Buchhalters und Rechnungsprüfers professionalisierte und, nicht zuletzt dank eines neugegründeten Berufsverbandes, kodifiziert wurde. Die Auseinandersetzung mit der zahlenmäßig immer bedeutender werdenden weiblichen Konkurrenz spielte hierbei eine wichtige Rolle und führte zu bis weit in das 20. Jahrhundert wirksamen Ausschlussmechanismen. Zugleich kann Thivend anhand der von Luquin und Malmanche vermittelten Lehrinhalte, wie beispielsweise des kaufmännischen Rechts, verdeutlichen, welche Anforderungen an diesen jungen Berufszweig gestellt wurden. Zum anderen lässt Thivend in ihrer detaillierten Untersuchung, in der sich präzise Fallstudien mit Makroanalysen fruchtbar ergänzen, zahlreiche Frauen aus dem Schatten der Geschichte treten. Dies gilt nicht nur für die vielen Handelsfrauen, zu deren Wirken ja bereits Susanne Schötz eine grundlegende Studie vorgelegt hat, sondern eben auch für weitgehend vergessene Protagonistinnen der Bildungsgeschichte. Ein Vorzug der Studie ist dabei, dass deutlich wird, wie diese Frauen unter den Prämissen ihrer Zeit agierten, wie sie verschiedene Dilemmata – beispielsweise mit Bezug auf das sich neue herausbildende, aber schnell marginalisierte Berufsbild der Stenotypistin – abwogen und wie sie allen Herausforderungen zum Trotz die Herausbildung weiblicher Autonomie beförderten. Alles in allem macht Thivends gut lesbare Studie deutlich, auf welche vielfältige Weise sich Frauen einen Platz im öffentlichen Leben erkämpften. Insofern erscheint es nur passend, dass es gerade die frühen feministischen Organisationen waren, in denen Buchhalterinnen ihr Können auch an großen Bilanzsummen unter Beweis stellen konnten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anne Sophie Overkamp, Rezension von/compte rendu de: Marianne Thivend, Ces femmes qui comptent. Le genre de l’enseignement commercial en France au XIXe siècle, Lyon (Presses universitaires de Lyon) 2024, 317 p. (Hors collection histoire), ISBN 978-2-7297-1439-0, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2025/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.110942