Die Herausgeberinnen des Sammelbandes sehen sich von der Digitalisierung und der Verarbeitung großer Datenmengen in der Gegenwart dazu inspiriert, nach den historischen und kognitiven Entstehungsprozessen von Inventaren und deren Kontinuitäten zu modernen Inventarisierungspraktiken zu fragen. Inventare verstehen sie als zentrale Instrumente (»outils clefs«, 7) zur Ordnung und (Wieder-)Anwendung von Daten, wobei hier weder definiert wird, was ein Inventar, noch was Daten oder gar Informationen seien. Zumindest für das Inventar wird eine solche Definition bewusst ausgeblendet, da die Herausgeberinnen darin einen letztlich überflüssigen Aufwand sehen, den man stattdessen lieber in die konkrete Arbeit mit den Quellen investieren könne (11‑12). Inventare sollen zudem nicht mehr nur als Datensteinbruch der Forschung dienen, sondern als selbständige Quellengattung mit ihren Eigenlogiken in den Vordergrund gerückt werden (7‑8). Im Mittelpunkt des Interesses stehen somit nicht mehr (nur) die inventarisierten Objektsammlungen, sondern die hinter dem Inventarisierungsprozess stehenden sozialen Praktiken (19).

In der Einleitung (7–23) verorten die Herausgeberinnen den Sammelband in der Forschungslandschaft zur Schriftlichkeit und Information seit den 1970er-Jahren. Sie konstatieren, dass es im 12. und 13. Jahrhundert nicht so sehr eine Revolution der Verschriftlichung gegeben habe, sondern vielmehr eine Revolution der Konservation, also eine neuartige Sorge um die Erhaltung, aber auch um Auffindbarkeit und Nachweisbarkeit von Objekten und (Besitz-)Rechten (8–9). Die Beiträge erstrecken sich über das 12. bis 19. Jahrhundert mit einem deutlichen geographischen Schwerpunkt auf Frankreich und Italien. Blicke ins Reich werden nur für die Frühe Neuzeit gewagt, England fehlt hingegen komplett. Den zeitlichen Beginn für den Sammelband begründen die Herausgeberinnen mit dem im Spätmittelalter entstandenen neuen Interesse an der praktischen Aneignung und Handhabbarkeit des »patrimoine« (9–10). Den Endpunkt im 19. Jahrhundert veranschlagen sie mit der zunehmenden Standardisierung von Inventaren und deren veränderter Zielsetzung, die nicht mehr nur der Verwaltungspraxis, sondern auch Forschungszwecken gewidmet war (10–11).

Drei zentrale Fragen stellen die Herausgeberinnen für die Beiträge des Bandes (12): 1. Warum wurden Inventare überhaupt erst angefertigt? 2. Welche Techniken wurden bei der Anfertigung verwendet? 3. Wie wurden die Inventare (wenn überhaupt) genutzt? Die insgesamt 16 Beiträge werden im Hinblick auf diese Fragen in drei Teile aufgeteilt. Freilich lassen sich sowohl die zentralen Überkapitel als auch die darauf eingehenden Einzelstudien weiterhin auf ein und dieselbe Frage verdichten, nämlich die erste: Warum wurden Inventare angefertigt? Die Aufteilung der Beiträge wirkt deshalb nicht recht überzeugend, da die Grenzen zwischen den drei Hauptthemen nicht klar gezogen werden. Auch gelingt es nicht immer, von der akzidentiellen Ebene des historischen Einzelfalls zu übergreifenden Thesen zu gelangen.

Die Beiträge des ersten Teils dokumentieren den Wunsch der historischen Akteure, die eigenen Ländereien bzw. Objekte unter Kontrolle zu bringen bzw. zu halten (Louise Gentil; David Bardey; Pauline Lemaigre-Gaffier). Zusätzlich gibt es aber auch Versuche adeliger Akteure, das eigene Erbe zu erhalten und somit ihre gesellschaftliche, politische und religiöse Stellung abzusichern (Filipa Lopes, Rita Nóvoa und Alice Gago; Nicolas Guyard; Agnès Sandras und Jean-Charles Geslot). Besonders der Beitrag von Agnès Sandras und Jean-Charles Geslot (117–133) verdeutlicht auch die lenkende Funktion von Inventaren, in diesem Fall von Katalogen sog. bibliothèques populaires, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Wird nur eine bestimmte Auswahl an Büchern katalogisiert, kann auch nur dieser Teilbestand der Öffentlichkeit zugänglich sein. Gerade hier wäre eine genauere definitorische Abgrenzung von Inventar und Katalog sinnvoll gewesen, denn die Ausrichtung von Inventaren auf die interne Verwaltungspraxis und die von Katalogen auf die öffentliche Zugänglichkeit lassen es fraglich erscheinen, ob beide Gattungen zusammenpassen.

Der zweite Teil untersucht die Methoden zur Anfertigung von Inventaren und die darin liegende Aussagekraft über Ziele, Gebrauchsweisen und Kompetenzen der Inventaristen. Die Stärke dieser Beiträge liegt im diachronen Vergleich der Inventare, der die Bedeutungsverschiebungen der Inventarisierung veranschaulicht: So konnte sich deren Zielsetzung von der vollständigen Erfassung einer gegebenen Ordnung zur Memorialisierung oder gar zur umfassenden Reorganisation der Sammlung wandeln (Étienne Anheim; Randolph C. Head; Paola Benussi; Laura Turchi). So illustriert Étienne Anheim (137–155) anhand der Inventare von Valentina Visconti, Herzogin von Orléans, wie gewinnbringend eine objektbiographische und kodikologische Analyse der untersuchten Inventare sein kann. Zugleich zeigt sich an diesem Beitrag jedoch auch die eingeschränkte Trennschärfe der Aufteilung des Bandes: Anheims Beitrag hätte genauso gut im dritten Teil verortet sein können.

Dieser dritte und letzte Teil behandelt nämlich die Eigenlogiken von Inventaren. Diese haben in der historischen Forschung bisher wenig Beachtung gefunden, sodass ein verzerrtes Bild der Objektsammlungen entstehen kann. Der Beitrag von Diane Antille (243–264) zeigt insbesondere, dass die Nachlassinventare der Charlotte de Savoie nicht wie bisher als vollständige Erfassung ihres Besitzes gesehen werden dürfen – unter diesem Blickwinkel wurden sie oft als Beleg für Charlottes Bescheidenheit bzw. den Geiz ihres Gatten Ludwig XI. gedeutet –; vielmehr handle es sich um eine unvollständige, weil hastig aufgesetzte Verkaufsliste, die die Objekte oft unter Wert schätzte. Die weiteren Beiträge (Silvia Bertolin; Aurélien Peter; Sonia Vernhes Rappaz; Sabine Juratic) verdeutlichen ebenfalls die Eigenlogiken, die nicht immer auf vollständige Erfassung der Objekte, sondern auf eine zielgerichtete und legitimitätsstiftende Auswahl ausgerichtet waren.

Der Band ist ein anschauliches Beispiel für die Öffnung von oft kleinteiligen und detailverliebten Spezialdisziplinen hin zu übergreifenden kultur- und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Allerdings werden die einzelnen Beiträge wohl vor allem für andere Spezialisten der behandelten Themen interessant sein und kein größeres Publikum locken können. Zwar gelingt es den Herausgeberinnen die Beiträge in der Einleitung gut einzuordnen, letztlich fehlt jedoch ein Fazit, das die Ergebnisse zusammenführt und in einen größeren kulturwissenschaftlichen Kontext einbettet. Für deutschsprachige Leser und Leserinnen ist das Inhaltsverzeichnis angenehm detailliert und die Beiträge mit ca. 15–20 Seiten etwas ausführlicher als die in Frankreich sonst üblichen 10 Seiten. Dass der Buchrücken sich nach geringer Verwendung bereits auflöst, steht in krassem Gegensatz zur Beständigkeit der behandelten Inventare. Während diese immerhin mehrere hundert Jahre überdauert haben, hat sich die Broschur nicht einmal mehrere hundert Tage gehalten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Noah Weissmüller, Rezension von/compte rendu de: Françoise Briegel, Maria Pia Donato, Valérie Theis (dir.), Logiques de l’inventaire. Moyen Âge–XIXe siècle, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2024, 366 p. (Art et Société), ISBN 978-2-7535-9543-9, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111083