Jedes menschliche Handeln birgt nicht nur die Aussicht auf Erfolg und Gewinn, sondern auch das Potential des Scheiterns in sich. Insofern ist es nachvollziehbar und begrüßenswert, dass sich Geschichts- und Literaturwissenschaften verstärkt dem Phänomen des Scheiterns und des Umgangs mit Misserfolgen in verschiedenen Epochen, Gesellschaften, Kontexten und Medien zugewandt haben. Untersucht werden dabei der Umgang mit Brüchen in Biographien, politische Misserfolge, sozialer Abstieg oder militärische Niederlagen in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen und Zusammenhängen. Durch diese Forschungen werden Dimensionen und Potentiale menschlichen Handelns sichtbar, die in Quellen, die den Fokus oftmals lieber auf die Erfolgreichen und Sieger der Geschichte richten, leicht übersehen werden können.

In diese Forschungszusammenhänge lässt sich auch der vorliegende Band einordnen, in dem, auf eine Kieler Tagung aus dem Jahr 2022 zurückgehend, das Phänomen des »Scheiterns in der Vormoderne« in einer gehaltvollen Einleitung und 19 Fallstudien ausgeleuchtet wird. Die Beiträge decken in gleich mehrerer Hinsicht ein breites Spektrum ab – chronologisch vom Frühmittelalter bis in die Frühe Neuzeit, thematisch von der Darstellung scheiternder Figuren in Epen über intellektuelle und soziale Rückzugsgefechte (aus der Retrospektive) gescheiterter Kirchenreformer, der Darstellung des Todes prominenter historischer Akteure bis hin zur narrativen Verarbeitung militärischer Niederlagen. Dabei werden Quellen aus recht unterschiedlichen Textgattungen und -genres untersucht. Der Gefahr, dass der Band angesichts einer solchen Vielfalt an Themen und Zugängen letztlich einen eher inkohärenten Gesamteindruck bieten könnte, sind die Beteiligten aus Sicht des Rezensenten schlüssig und recht erfolgreich begegnet, indem das zentrale Konzept des Scheiterns in allen Beiträgen explizit thematisiert wird, wodurch Verbindungen auf konzeptueller Ebene klarer hervortreten.

Im Rahmen dieser Besprechung ist es nicht möglich, auf alle Einzelstudien detailliert einzugehen, weshalb im Folgenden eine kommentierende Übersicht genügen muss. Nach dem Vorwort ist der Band in fünf Sektionen gegliedert. Die erste ist »Poetologische[n] Reflexionen des Scheiterns« gewidmet. Hier gelingt es Manuel Braun herauszuarbeiten, wie im Helmbrecht nicht nur das Scheitern des Protagonisten didaktisch funktionalisiert wird, sondern auch die sozialen Normen problematisiert werden, die zu diesem Scheitern führen. Mark Chinca zeigt, wie im Tristan Gottfrieds von Straßburg die bereits aus antiken Texten bekannte Unsagbarkeitstopik die Rezipienten des Textes zur Reflektion der Dichtkunst selbst herausfordert. In zwei weiteren Beiträgen widmen sich Ulrich Hoffmann und Daniela Vukadin dem Melusine‑Stoff und untersuchen dabei, wie das Scheitern verschiedener Figuren zwischen Erzähllogik und topologischen Bezugspunkten dargestellt und gedeutet wird.

In der folgenden Sektion zu »Funktionen des Erzählens vom Scheitern« zeigt Jan Glück in einem sehr interessanten Beitrag anhand der »Reineke Fuchs«-Erzählungen auf, wie durch die Darstellung des Scheiterns der Fuchsfigur zum Nachdenken über politisches Handeln und Entscheidungen angeregt wird. Katharina Gedigk führt kenntnisreich durch eine Analyse Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, der in der Tat als paradigmatisches Beispiel für didaktisches Erzählen vom Scheitern gelten kann. In ihrer Untersuchung der Lespia-Figur aus dem Wigamur gewinnt Maline Kotetzki durch eine Analyse, in der vor allem gender- und raumtheoretische Ansätze zum Tragen kommen, interessante Aspekte ab.

Anschließend stehen »Narrative Strategien der Erklärung, Abwehr und Umdeutung des Scheiterns« in biographischen und historiographischen Texten im Mittelpunkt. In vier dieser Beiträge, die durchgehend sehr lesenswert sind, werden mit unterschiedlichen Perspektiven Texte untersucht, die Aufschluss darüber geben, wie Akteure im Umfeld kirchlicher Institutionen Scheitern zu bewältigen versuchten. Eine wichtige thematische Verbindung stellen verlorene Auseinandersetzungen im Kampf gegen die Reformation (Beiträge von Bernward Schmidt und Lea von Berg) dar. Für das Scheitern verantwortlich gemacht werden entweder institutionelle Faktoren oder die Unzulänglichkeit Einzelner, wodurch die Legitimität der Glaubensgemeinschaft insgesamt unberührt blieb. Philipp Winterhager (zu Erzbischof Bardo von Mainz) und Francesco Massetti (zu den Wibertinern) gelingen differenzierende Beobachtungen zu diesen Gescheiterten, wodurch auch manches frühere Forschungsurteil korrigiert wird. Franziska Quaas arbeitet überzeugend heraus, wie militärische Niederlagen in historiographischen Berichten oft auf charakterliche Defizite einzelner zurückgeführt werden, worin sie zu Recht eine Kontinuität von Erklärungsmustern über Jahrhunderte hinweg erkennt.

Der vierte Abschnitt widmet sich Fällen um »Individuelles und kollektives Scheitern als Selbst- und Fremdzuschreibung«. Matthias Weber (zum Tod von Bischöfen) und Manuel Kamenzin (zum Tod von Königen) führen kenntnisreich vor, wie durch das Anknüpfen an Erzählmuster und Topoi vom »schlechten Tod« Ziele und Handlungen der jeweiligen Protagonisten delegitimiert werden. Einer Darstellung einer militärischen Niederlage widmet sich Sarah Lehner in Bezug auf den »Fall von Akkon«, während Sylvia Brockstieger mit der Autobiographie des Humanisten Johannes Fabricius Montanus zeigt, wie Scheitern dort in theologische Deutungslinien eingebunden wird.

Im letzten Kapitel gehen drei Studien auf transzendente Muster in der Beschreibung vom Scheitern ein. So analysiert Anna Chalupa‑Albrecht, wie das Scheitern in hagiographischen Erzählungen zur Voraussetzung einer Transzendenz von Heiligen wird, wie indes auch deren Nachleben im Reliquiar vom Scheitern bedroht sein kann. In einem instruktiven Beitrag untersucht Marcus Martin, wie im Rolandslied des Pfaffen Konrad eine deutliche Ambivalenz aufscheint zwischen dem weltlichen Scheitern durch den Tod in der Schlacht, der wiederum zur Voraussetzung des Heilsstatus im Jenseits wird. Kilian Baur widmet sich der Darstellung gewaltsamer Herrscherwechsel und zeigt, wie verschiedene Chronisten versuchten, diese Ereignisse in heilsgeschichtliche Deutungsmuster einzuweben.

Es ist stets wohlfeil, auf fehlende Themen einer Sammlung von Studien hinzuweisen, insbesondere, wenn diese so umfang- und facettenreich wie die vorliegende ist. Gleichwohl mag das weitgehende Fehlen früherer Epochen angesprochen werden, wodurch sich die »Vormoderne« im Buchtitel auf Mittelalter und Frühe Neuzeit beschränkt. Dies ist umso bedauerlicher, da nicht wenige der Beiträge Deutungsmuster und Narrative untersuchen, die sich bereits in antiken Texten finden lassen. Hierauf wird in einigen Beiträgen zwar zu Recht verwiesen, doch hätte diese Perspektive noch stärker hervorgehoben werden können.

Insgesamt liegt indes ein überaus vielseitiger und gehaltvoller Band vor, der nicht nur am Mittelalter Interessierten, sondern auch Forschenden zu früheren und nicht zuletzt späteren Epochen instruktive Einsichten in das Phänomen des Scheiterns und der mit ihm verbundenen vielfältigen Bewältigungsstrategien eröffnet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Simon Lentzsch, Rezension von/compte rendu de: Margit Dahm, Andreas Bihrer, Timo Felber (Hg.), Scheitern in der Vormoderne. Narrative Konzeptionalisierungen in Literatur und Historiographie, Göttingen (V&R unipress) 2024, 515 S., 2 Abb. (Encomia Deutsch, 8), ISBN 978-3-8471-1675-2, DOI 10.14220/9783737016759, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111085