Die Dissertation (Universität Poitiers, Betreuung: Martin Aurell) untersucht die Geschichte einer wenig erforschten Region, des Bas-Poitou (heute Département Vendée) zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert. Chronologische Rückgriffe auf die Karolinger-/frühe Kapetingerzeit und Ausgriffe in das spätere Mittelalter sowie ein dicht strukturierter und untergliederter Aufbau lassen den Band zu einer anspruchsvollen Lektüre werden. Schon in seiner Definition als »monographie régionale« liegt eine Besonderheit des Werkes, in der Verflechtung von Ereignis- und Überlieferungsgeschichte eine weitere. Während bislang häufig der Mangel an Originalüberlieferung beklagt wurde, öffnet Jeanneau den Zugang zu einer reichen archivalischen Kopial- und Registerüberlieferung und fragt nach deren Entstehungskontexten und der causa scribendi der monastischen Schriftproduktion.

Die Abfolge der fünf Hauptkapitel zeigt den Weg zur etablierten Herrschaftsordnung: die Mönche bei der Arbeit, eine sich entwickelnde Adelsgesellschaft, die Begründung adeliger Gewalt, Adel und Kirche, Praxis fürstlicher Macht. Steht am Anfang das häufiger zitierte Trauma (»le traumatisme«) der normannischen Überfälle des 9. Jahrhunderts und initial die fürstliche Gründung einer Abtei kurz vor 1100, so am Ende eine entwickelte, aber komplexe und fragile Arithmetik zwischen Kirche und Adel. Prägend im Untersuchungszeitraum waren die Regenten der Grafschaft Poitou. Es ist aber weniger deren Geschichte, die Jeanneau interessiert, als die Konstellation der Kräfte in der Region, vor allem die sich herausbildende soziale Formation adeliger Familien in ihrem Konflikt und Konsens, auch und insbesondere gegenüber den Vertretern der Kirche vor Ort. Durchlebte Krisensituationen ergaben sich nicht erst aus großen politischen Ereignissen, sondern bereits durch Gewalt- und Zerstörungsakte gegen Kirchengebäude oder den Tod des Grafen und die Unsicherheit seiner Nachfolge. Der Adel suchte nach stabilen Verhältnissen, in der Herrschaft und im eigenen Milieu, sozialer Anerkennung und Sichtbarkeit von Statusmerkmalen.

Das ambivalente Verhältnis zwischen Klerus und Laiengesellschaft durchzieht die Darstellung als methodischer Leitfaden. Dabei wird einerseits auf das bekannte Modell der drei Ordnungen Bezug genommen, um die Ausformung sozialständischer Merkmale und Abgrenzungen exemplarisch aufzuzeigen. Andererseits führen Verbindungs- und Spannungslinien zu vertieften Einsichten in die innere soziale Ordnung, etwa anhand der Stiftungspraxis des Adels und deren Dokumentation durch klösterliche Schreiber, die ihre gestalterischen Freiräume ausspielten (»stratégie d’écriture«, »écriture pragmatique«). Die Mönche stellten dem eigenen Nutzen durch wirtschaftliche Zuwendungen eine möglichst geringe Abhängigkeit vom laikalen Stifter gegenüber, betonten die freie Abtswahl und zugleich die personelle Synergie mit dem lokalen Adel oder überwölbten Konfliktpotentiale mit der Berufung auf die ideelle und imaginierte Einheit von Adel und Klerus in höherer göttlicher Ordnung und das zugeschriebene Idealbild des christlichen Adels. Es ist evident, wenn Jeanneau in der umfangreichen Registerüberlieferung ein Zeugnis für planvolle Transkriptionen und (Re)konstruktionen erkennt.

Stringent und sprachlich gefällig, wenn auch mitunter etwas redundant, gelingt es Jeanneau in solchen Zusammenhängen, Theorien gesellschaftlicher Ordnung und soziale Praxis anhand von quellengesicherten Aussagen zueinander in Beziehung zu setzen. Auch dadurch werden seine umfangreichen Nachweise zum Gebrauch von Materialität (der Besiegelungspraxis, der Fundationen oder Stiftungen, baulicher oder agrarischer Maßnahmen) kontextualisiert und wirtschafts-, sozial- und kirchenhistorische Entwicklungen in den genuinen Zusammenhängen gesehen, in denen sie in der Sicht der Zeitgenossen ganz offensichtlich gestanden haben. Die zahlreichen Tabellen mit aus der Überlieferung belegten Daten weisen reale gesellschaftliche Erfahrungswerte nach.

Die Etablierung lokaler Adelsherrschaft wird überzeugend als allmähliche Etablierung von adeligen Familien in ihrer Region und deren Nachfolgeordnung beschrieben. Hier hilft die begriffsgeschichtliche Differenzierung der Quellentermini für die adlige, ritterliche Elite. Spätere dynastische Kontinuitäten erscheinen, von Beginn an nachverfolgt, keineswegs mehr zwangsläufig, sondern als gewollte und erkämpfte »structure lignagère« und darin als Ausdruck einer »politique matrimoniale«. Innerhalb der üblichen Strukturen einer patriarchalischen Sozialordnung ist ein weites Feld von Heiratsstrategien, auch über Ranggrenzen hinweg, und detaillierten Planungen von Zuwendungen und Leibrenten und in alledem vielfach eine tragende Initiative von Frauen zu erkennen. Wieder erlaubt die Familiengeschichte im Lokalen tiefere Einblicke. Berühmte Persönlichkeiten des Raumes, wie Eleonore von Aquitanien, kommen vor, stehen aber keineswegs im Vordergrund.

Zentraler Orientierungspunkt für die Stabilisierung adeligen Status’ war ein befestigter Sitz als Instrument zur Raumbeherrschung (»domination d’un espace«). Aus den Quellen hergeleitet (»castrum«, »châteaux«, »fortesse«, »résidence«), fächert schon die begriffsgeschichtliche Komplexität den Befund auf. Zusammen mit der agrarischen Wirtschaftsform steht der Herrensitz für die Spannung zwischen notwendiger sozialer und ökonomischer Transformation und dem Ideal adeliger Stabilität. Selbst die Beherrschten waren keine einheitliche Formation, sondern unterschieden in Angehörige sozio-ökonomischer Status (»paysans libres«, »servi«, »esclaves«). Rahmender und verbindender Ausdruck der Macht (»puissance«, »pouvoir«) blieb vor allem die sukzessive verdichtete, gewohnheitliche Rechtsgewalt (»coutumes«) der Herren, die allmählich den Adel auch gegenüber dem Fürsten stärkte und zu Konflikten in den Lehnsverhältnissen führte.

Die von Jeanneau referierten Beobachtungen sind im Einzelnen vielfach nicht neu. Mit gutem Grund wird genauer auf aktuelle Forschungsdiskurse verwiesen. Was die Studie aber besonders auszeichnet, ist der souveräne Gesamtzugriff auf die Vielzahl der Entwicklungen und ihre Interferenzen und die Tiefe der quellenbasierten exemplarischen Analyse für die untersuchte Region. Die ausführliche Darstellung sowie die Fülle der Datentabellen, Karten und Fotos erlauben nicht nur eine Einführung in die Geschichte der Region, sondern werden zweifellos ein Impuls für künftige Forschungen zu anderen Regionen sein können.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Kintzinger, Rezension von/compte rendu de: Cédric Jeanneau, Le Bas-Poitou du XIe au milieu du XIIIe siècle. Une société au miroir de ses écrits, Turnhout (Brepols) 2023, 692 p., 47 tables en n/b., 10 cartes en coul., 1 ill. en n/b, 3 ill. en coul. (Histoires de famille. La parenté au Moyen Âge, 23), ISBN 978-2-503-52848-9, doi 10.1484/M.HIFA-EB.5.106747, EUR 130,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111098