Das Motiv des Werwolfs übt seit jeher eine besondere Faszination aus. Trotz der ausufernden Forschungsliteratur fehlt bisher ein Werk, das – zumindest für das Mittelalter – eine (weitgehend) vollständige Sammlung der relevanten Texte bietet. Corinne Pierreville schließt diese Lücke, indem sie einen Editionsband mit 19 lateinischen und altfranzösischen Texten vorlegt, die zwischen dem 11. und dem 15. Jahrhundert entstanden sind. Der geographische Radius der Textauswahl beschränkt sich dabei auf Frankreich, die Britischen Inseln, Deutschland und Italien, was angesichts der beeindruckenden Textmenge gerechtfertigt erscheint.

Dem Editionsteil geht eine lehrreiche Einleitung voran, die sich v. a. mit dem mittelalterlichen Verständnis von der Realität der Werwolf-Transformation und den theologischen Grundlagen dieses Verständnisses (insbesondere bei Augustinus) beschäftigt. Auch die Beobachtungen zur Rolle, die Frauen in diesem Zusammenhang zugesprochen wurde, sind aufschlussreich.

Ergänzend zur Einleitung werden die einzelnen Editionen von kurzen Einführungen begleitet, die Informationen zu Autor, Entstehungskontext und Inhalt liefern und für das Verständnis der heterogenen Texte sehr wertvoll sind.

Verdienstvoll ist das auf die Einleitung folgende Literaturverzeichnis, das sehr umfangreich ist und nicht nur die französische, sondern auch die englische, italienische und deutsche Literatur berücksichtigt.

Den Band beschließen ein Glossar, ein Verzeichnis der Handschriftenabbildungen sowie ein Inhaltsverzeichnis.

In der Einleitung weist die Herausgeberin darauf hin, dass die Überlegungen mancher der edierten Autoren noch unbekannt sind »car elles exigent le déchiffrement d’un manuscrit médiéval en latin« (13). Leider liegt gerade in diesem Bereich die große Schwäche des Editionsbands. Dies betrifft sowohl die Transkription als auch den Umgang mit dem überlieferten Text.

Falsche Transkriptionen sind in fast allen lateinischen Texten zu finden. So liest man in De mirabilibus Hibernie (128) zu Beginn von V. 13 Si statt Sic und in den Interlinearglossen omnium statt ovium (Anm. 9), im Malleus maleficarum (234) E acidentalis questio (Z. 25) statt Incidentalis questio und ex quinquis causis (Z. 31) statt ex quinque causis, im Flagellum maleficorum (218, Z. 7) alterius specii statt alterius speciei und im Avicenna-Kommentar des Gentile da Foligno mehrfach id est (248, Z. 31, 38 u. 50) statt etc. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Der Umgang mit den überlieferten Lesarten ist ebenfalls problematisch. In der Einleitung (75) distanziert sich die Herausgeberin von einer den überlieferten Text zu stark glättenden Editionstechnik, die die Eigenständigkeit der Überlieferungsträger nicht ernst nimmt. Diesem Ansatz ist prinzipiell zuzustimmen. Leider schlägt er allzu oft um in eine ungerechtfertigte Treue zu offensichtlich falschen Lesarten, die kaum die Intention des Autors widerspiegeln dürften. So wird im Chronicon des Hélinand de Froidmont (190, Z. 30) Pologian statt Politiam in den Text genommen, obwohl es sich – die Herausgeberin weist selbst darauf hin (191, Anm. 3) – um ein wortgetreues Zitat aus Hieronymus’ Adversus Iovinianum (2,7) handelt und dort politiam steht. Zu Beginn von De Arthuro et Gorlagon (352, Z. 1) wird apud urbem legionem für »dans la cité des légions« im Text belassen, wobei legionem eine nirgends belegte adjektivische Funktion haben soll (Anm. 3). Richtig ist die – von allen drei in Anm. 1 zitierten Ausgaben verwendete – Genitivform legionum, die sich als geringfügige Verschreibung leicht erklären lässt.

Im Falle der Edition des Reductorium morale von Petrus Berchorius (206) kommen beide Probleme zusammen. Innerhalb weniger Zeilen begegnen hier mehrere Transkriptions- und Editionsfehler. Transkribiert wird ibi statt ibidem (Z. 22), Circeu statt creceu (Z. 25) und liceo statt lieo (Z. 21). Ibidem hätte problemlos in den Text gepasst und aus dem verschriebenen creceu ergibt sich ohne Weiteres die gut belegte Akkusativform Circen. Die verschriebene Dativform lieo ist Teil der Formulierung tale nomen affixerunt Ioui linceo et Pani lieo, die fast wörtlich aus Augustins De civitate Dei (18,17, Z. 13–14: tale nomen adfictum Pani Lycaeo et Ioui Lycaeo) übernommen ist. Da es in der Vorlage darum geht, dass beide Götter mit dem identischen Attribut belegt wurden, gibt es keinen Grund, hier unterschiedliche Schreibungen im Text zu belassen.

Die französische Übersetzung bietet in der Regel eine zuverlässige und gut lesbare Wiedergabe der edierten Texte. Manchmal gerät sie zu frei, etwa wenn exacto spatio quod huic sorti attributum est bei Hélinand de Froidmont (188, Z. 11‑12) mit »au terme de la durée précise que le sort leur a assignée« (189, Z. 12‑13) wiedergegeben und sors zum Subjekt wird, obwohl damit das Los des Verwandeltseins gemeint ist. Manchmal werden Schwierigkeiten im lateinischen Text auch einfach übergangen. So bleibt das Wort idida in der Wendung attestante idida priscorum saeculorum sapientissimo rege in der Vita Ronani (292, Z. 468‑469) unübersetzt, obwohl im Glossar (734) die Bedeutung »uniquement« angegeben wird. Diese basiert anscheinend – gesagt wird dies nicht – auf der bei Du Cange (Ausgabe L. Favre, Bd. 4, 284) dokumentierten Übersetzung mit »solamente«. Im Kontext des unmittelbar folgenden Zitats aus dem Buch Prediger ist Idida aber eindeutig einer der Namen König Salomos, der von den mittelalterlichen Exegeten als dilectus Dei interpretiert wurde, so z. B. von Bernhard von Clairvaux im 50. seiner Sermones de diversis.

Das erwähnte Glossar lateinischer und französischer Begriffe (733‑739) ist wenig umfangreich und fällt durch falsche Formen (z. B. evus, i statt evum, i; fungo, ere statt fungor, i; dicessusi statt dicessus, us; cepio, ere statt incipio, ere) und unsinnige Übersetzungen auf. So soll virga »jeune femme« und magorum als Form von major »ancêtre, aïeul« bedeuten. Leider sind auch an vielen Stellen – im lateinischen Glossar fast durchgängig – die angegebenen Zeilen- bzw. Verszahlen falsch.

Durch fehlerhafte Angaben wird auch die Konsultation der den Editionen zugrunde liegenden Handschriften erschwert, so z. B. bei den Otia imperialia des Gervasius von Tilbury (166, Anm. 1). Die verwendete Handschrift soll zum vatikanischen Fonds der Reginenses Latini, der hier – wie auch sonst im Buch – als »Reginensi latini« bezeichnet wird, gehören, stammt aber aus dem Fonds der Vaticani Latini, und die edierte Passage beginnt auch nicht auf fol. 64va, sondern auf fol. 84va.

Erklärtes Ziel der Herausgeberin ist es, die Vielfalt der mittelalterlichen Werwolf-Literatur einem breiten Publikum zu erschließen (12–13, 76). Die große Zahl der teilweise bisher unedierten Texte, die eingängige Übersetzung, die Fülle an interessanten Erläuterungen, das handliche Format und der moderate Preis sprechen dafür, dass der Editionsband diesem Anspruch gerecht werden kann. Umso bedauerlicher ist es, dass der interessierten Leserschaft – zumindest soweit es den lateinischen Teil des Werks betrifft – kein zuverlässiger Text geboten wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Niels Becker, Rezension von/compte rendu de: Corinne Pierreville (éd.), Loups-garous du Moyen Âge. Textes édités, traduits et commentés, Paris (Honoré Champion) 2024, 747 p., 11 ill. en coul. (Champion Classiques. Série Moyen Âge, 62), ISBN 978-2-38096-080-8, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111111