Ein Philologe und Literaturwissenschaftler mit einer langen und intensiven Forschung über Formen, Gattungen – insbesondere die poetischen – und die prominentesten Autoren der mittellateinischen Kultur fragt sich nach dem Wesen des literarischen Schreibens: Das Ergebnis ist ein Band von unzweifelhafter wissenschaftlicher Relevanz, in dem Jean-Yves Tilliette auf verdienstvolle Weise elf Aufsätze versammelt, die zuvor in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren (1998–2018) an verschiedenen Orten veröffentlicht wurden. Darin werden für die weniger aktuellen Aufsätze bibliographische Aktualisierungen bereitgestellt.

Schon der vielsagende Titel ist wegweisend und betont zwei Aspekte, den sprachlichen und den künstlerischen: »der Geschmack der Worte« und »die Kunst des Schreibens«. Tilliette gliedert seine Aufsätze in zwei Abschnitte, die unter dem Zeichen der beiden Künste des Triviums stehen, die sich mit Literaturtheorie beschäftigen, nämlich die Grammatik (»grammatica, ou les lois de la théorie«) und die Rhetorik (»rhetorica, ou les voies de la pratique«, die sich im lateinischen Mittelalter von der Kunst des Sprechens in die Kunst des Schreibens wandelte).

Die sehr hilfreiche Einleitung gibt dem Leser einige nützliche Hinweise zu den Besonderheiten des mittelalterlichen Lateins als Literatursprache par excellence und definiert den intellektuellen Horizont, indem Tilliette Michel Zinks grundlegendes Buch Poésie et conversion au Moyen Âge evoziert (obwohl dieses Buch nicht ausschließlich die mittellateinische Literatur in Betracht zieht): »la majorité des textes médiévaux […] sont des textes religieux ou marqués, à des degrés divers et sous des formes diverses, par les préoccupations religieuses« (ibid., 4). Während Zink untersucht, wie die Poesie ihr Wesen definiert und ihre Existenz im Kontext der Bekehrung zu rechtfertigen versucht – und zwar im Sinne der religiösen Spannung, die die gesamte mittelalterliche Kultur durchdringt –, geht Tilliette dieser tiefgründigen Frage aus verschiedenen Perspektiven nach. Dabei konzentriert er sich auf eine eher technische, sprachliche und stilistische Ebene, die vor allem auf die literarische Produktion in lateinischer Sprache ausgerichtet ist.

Obwohl zwei zentrale Jahrhunderte der Geschichte der mittellateinischen Literatur (1050–1250) und insbesondere das »goldene Zeitalter« zwischen 1150 und 1230 als privilegierte Zeitspanne in den Blick genommen werden, ist die programmatische Ouvertüre einer Untersuchung der obskuren und geheimnisvollen Sprache eines literarischen Produkts aus der äußerst westlichen Peripherie Europas gewidmet: den frühmittelalterlichen Hisperica famina (15–29). Alle Aufsätze des Bandes sind von dem roten Faden durchzogen, der den Kern der langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit des französischen Gelehrten bildet: die Hervorhebung der innovativen Kraft und Ausdrucksschönheit der mittellateinischen Sprache, die Erforschung der tiefen Bedeutung der Poesie im lateinischen Mittelalter, sowohl in ihren Realisierungen als auch in ihren theoretischen und präskriptiven Darstellungen (z. B. die artes des 13. Jahrhunderts) durch die Lektüre sowohl der bekanntesten Texte – für die neue Interpretationsschlüssel vorgeschlagen werden – als auch von Autoren und Werken, die bisher weniger berücksichtigt worden sind und eine größere Aufmerksamkeit verdienen. Der vorherrschende territoriale Bereich der ausgewählten Autoren ist zwar Frankreich (mit einigen Ausflügen nach Irland und Norditalien), aber die Universalität, welche die mittellateinische Kultur kennzeichnet, erlaubt es, die Dimension der geographischen Grenzen zu überschreiten.

Indem er seinen eigenen wissenschaftlichen Weg zurückverfolgt, stellt Tilliette die ursprünglichen Ziele der einzelnen Studien auf eine höhere Ebene, indem er sie miteinander in Dialog treten lässt und dem Leser aufschlussreiche Einblicke in die mittellateinische Literatur unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zur Praxis der Poesie und der Transformationsprozesse der antiken Rhetorik in der Konfiguration der ars dictaminis gewährt. Die Vitalität der mittellateinischen Sprache in der Dichtung wird auch durch die Untersuchung der Beziehungen zwischen der mittelalterlichen lateinischen Poesie und der modernen Poesie, insbesondere der Dichter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit großem Eifer bestätigt: Exemplarisch ist die Analyse des Gedichts Franciscae meae laudes von Baudelaire im letzten Aufsatz, dem vielleicht autobiographischsten, da Tilliette die Ursprünge seiner eigenen wissenschaftlichen Berufung gerade aus der europäischen Poesie des späten 19. Jahrhunderts ableitet. Die Buchkapitel, die akribisch die einzelnen technischen Bestandteile der mittellateinischen Poesie und ganz allgemein die Umschreibung und Überarbeitung klassischer und spätantiker Vorbilder untersuchen, öffnen Türen zur didaktischen Dimension der akademischen Tätigkeit von Tilliette: zum Beispiel das III. Kapitel über das Latein der mittelalterlichen Poesie (71–93), das IV. Kapitel über das literarische Schreiben im 12. Jahrhundert (95–111), das VIII. Kapitel über die Dichtkunst des Walter von Châtillon (181–196), um nur einige davon zu nennen. Das Vorhandensein von Auszügen in französischer Übersetzung macht dieses dichte Buch auch für interessierte Laien zu einem unterhaltsamen Werk. Dieses trägt zweifellos dazu bei, die (oft vernachlässigte) lateinische Literatur des Mittelalters wieder in den Blick zu nehmen, weil es in Ausdruckskraft, sprachlicher Würde und im Reichtum der vielen poetischen Stimmen – darunter als herausragendste Balderich von Bourgueil, Hugo Primas und Walter von Châtillon – anderen literarischen Werken der gleichen Zeit oder anderer Epochen in nichts nachsteht.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Corinna Bottiglieri, Rezension von/compte rendu de: Jean-Yves Tilliette, La saveur des mots. Essais sur l’art d’écrire au Moyen Âge, Genève (Librairie Droz) 2024, 306 p. (Recherches et Rencontres, 39), ISBN 978-2-600-064699, EUR 30,60., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111119