Unter der Leitung von Alessia Trivellone, Maîtresse de conférences HDR in Geschichte des Mittelalters an der Universität Paul-Valéry Montpellier 3 und Direktorin des universitätsübergreifenden Wissenschaftsnetzwerks Hérésie, Pouvoirs et Sociétés, sind vier Studien zusammengetragen worden, die durch einen vergleichenden Ansatz zeitlich und geographisch weit auseinanderliegende Fälle von christlicher Häresie als zeitgenössische Konstruktion von östlicher Ketzerei offenlegen. Im Zeitraum vom 4. bis zum 15. Jahrhundert, in dem religiöse und politische Spannungen eng miteinander verwoben waren, beleuchtet der Sammelband, wie verschiedene religiöse Bewegungen in Kleinasien, Armenien, Äthiopien und dem Fernen Osten von verschiedenen politischen Kontexten beeinflusst wurden und wie ihre Kritiker die Diskurse um Häresiekonstrukte formten.

Die Frage nach der Konstruktion und Instrumentalisierung von Häresie im europäischen Mittelalter durch die Forschung zum sogenannten Katharismus wird seit Jahren kontrovers diskutiert, sodass das Vorwort Robert Ian Moores diesbezüglich den Anknüpfungspunkt zu den abendländlichen Texten aufzeigt. Der Kern dieser kritischen Quellenarbeit besteht generell nicht nur darin, ihre Provenienz und inhaltliche Aussagekraft zu häretischen Denunziationen herauszuarbeiten, sondern auch im erweiterten Verständnis zum geistigen Erbe dieser Dokumente. Intellektuelle, soziale und politische Umstände jener Zeiten sowie individuelle und kollektive Eindrücke des jeweiligen Sozialgefüges prägten maßgeblich die Überlieferungen der Ankläger von Häresie (8). Anhand der Verwendung zahlreicher schriftlicher und ikonographischer Quellen erweitern die Beiträge der Autorinnen und Autoren den Blick auf das häretische Wirken im afrikanisch-asiatischen Christentum und ermöglichen ergänzende Vergleichsstudien. Dabei unterstreicht Trivellone in ihrer Einführung die eigentliche Widersprüchlichkeit in der Auseinandersetzung mit dem alternativen orientalischen Christenglauben: Einerseits betont sie aus historischer Perspektive, dass östliche Häresien wie die Manichäer oder Bogomilen kein Ursprung für westliche Ketzerei seien, andererseits verweist sie aus wissenschaftlicher Sicht auf die universelle Vergleichbarkeit der christlichen Häresievorstellungen in Orient und Okzident (11–15).

Valentina Toneatto thematisiert im ersten Beitrag das kleinasiatische christliche Mönchtum im 4. Jahrhundert und eröffnet einen neuen Blickwinkel auf die Verurteilungsstrategien durch oströmische Bischöfe und Kaiser gegenüber abweichenden monastischen Strömungen. Anhand von im Jahr 341 zusammengefassten Synodalakten zeigt sich unter anderem, dass die unter vielen kleinasiatischen Christen erfolgreichen asketischen Glaubensgrundsätze der Eustathianer mit dem repräsentierenden, reicheren Klerus konkurrierten. Daher ging die Denunzierung dieser monastischen Gruppen über die reine Auslegung christlicher Dogmen hinaus und zielte auf Machterhalt und Wohlstandsverteidigung der Bischöfe mit Unterstützung des Kaisers ab (35–37).

Die häretischen Vorkommnisse in der armenischen Stadt T’ondrak vom 9. bis 11. Jahrhundert nimmt Isabelle Augé in den Blick. Aus einer zeitgenössischen historiographischen Quelle sowie aus Briefen geht ein komplexes Bild über die t’ondrakischen Dissidenten hervor, die die materiell-ökonomischen Seiten der Amtskirche im Sinne des Evangeliums ablehnten und dadurch armenische Polemisten auf den Plan riefen (56). Im geographischen Spannungsfeld zwischen byzantinischem Reich und abbasidischem Kalifat nahm zudem die Polemisierung der lokalen Andersgläubigen eine Sonderstellung ein.

Der dritte Text von Olivia Adankpo-Labadie setzt sich mit der Verurteilung eines vermeintlichen äthiopischen Häretikers durch König Zar’a Ya’eqob im 15. Jahrhundert auseinander und geht der Frage nach, warum der Kirchenmann Estifanos durch die kirchlichen Autoritäten und den König verfolgt wurde. Unterschiedliche Dokumente veranschaulichen, wie der Konflikt gegenüber der stefanitischen Bewegung Äthiopiens dogmatisch und machtpolitisch ausgefochten wurde; die Quellenzeugnisse heben die Deutungshoheit des christlichen Glaubens in Ostafrika hervor, die geprägt ist vom Kampf zwischen der politischen Einflussnahme des Königs Zar’a Ya’eqob und der narratio des Märtyrers Estifanos (79–80).

Abschließend widmen sich Rémi Plotard und Alessia Trivellone einer Gesamtschau der vielfältigen Quellen zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert, welche in einer Widersprüchlichkeit des Diskurses die abendländische Sichtweise auf die Christenheit des Nahen und Fernen Ostens richten. Neben der Kategorisierung und Schematisierung zur eigenen Abgrenzung (84–100) wurden orientalische Christen trotzdem als Brüder im Geiste angesehen, wenn es um die Verteidigung des Glaubens gegenüber dem Islam ging, oder wenn eine gewisse Magie des Orientalischen ausgestrahlt wurde (100–112). Dadurch entstand im mittelalterlichen Europa ein insgesamt heterogenes Bild von Christen des afrikanisch-asiatischen Raums, das sich jedoch immer wieder, sehr unsystematisch, auf das Bild von christlichen Abweichlern der wahren Lehre stützte und damit das konstruierende Konzept der häretischen Denunziation bediente (114, 117–118).

Der Ansatz des Sammelbands ist durch den Vergleich verschiedener Häresien und ihrer Behandlung in unterschiedlichen Regionen und Perioden des mittelalterlichen Orients gekennzeichnet. Hervorzuheben ist, wie die Autorinnen und Autoren die unterschiedlichen Reaktionen der byzantinischen, armenischen und äthiopischen Kirchen auf die jeweiligen Häresien darstellen, wobei die Verknüpfung der dogmatischen Auslegung von Häresie mit den sozialen Aspekten verbunden wird. Daher stellt immer wieder auch die Rolle der politischen Macht im Umgang mit Häresien ein zentrales Thema des Buches dar.

Die Beiträge beruhen auf einer facettenreichen und differenziert betrachteten Quellenlage und schildern überzeugend, dass Häresie oft nicht nur als religiöse Abweichung verstanden wurde, sondern auch als politische Bedrohung. Beispielhaft dafür steht der kleinasiatische Raum, der von immerwährenden Machtkämpfen geprägt war. Diskurse zu Häretikern dienten dort als Bekämpfung von Häresien nicht nur zur Wahrung der eigen religiösen Orthodoxie, sondern auch als Festigung der kaiserlichen Autorität im byzantinischen Machtbereich. Daher bietet der Sammelband mit seinen vergleichenden Studien zu Diskursen über Häretiker des Ostens die wertvolle Chance, den eurozentrischen Blick mittelalterlicher Konstrukte von Ketzerei zu erweitern, um Analogien zu entdecken.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Yannick Pouivet, Rezension von/compte rendu de: Alessia Trivellone (dir.), Hérésies chrétiennes dans l’Orient médiéval (IVe–XVe siècle). Approche comparatiste des discours polémiques et des contextes politiques, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2024, 132 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-9633-7, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111121