»What is Medieval?« ist die Leitfrage aller Beiträge dieses sehr anglo-amerikanischen Buchs, das sich der Popularität des Mittelalters als der Epoche zwischen Antike und Moderne widmet, dabei »popular medievalisms« in den Vordergrund stellt und »medieval studies« als »medievalisms« einbezieht, ein mögliches, aber auch gefährliches Vorgehen, dem leicht die wissenschaftliche »Kontrolle« über die Mittelalterrezeption entgleiten kann. Die in der Einleitung immer wieder neu und anders dargelegten Ziele des Bandes sind ebenso vielfältig wie diffus: So soll mittels neuer Ansätze das Mittelalter erfasst werden »in which the modern world presents itself«. Auf diese Weise sollen eine Intersektion zwischen der mittelalterlichen und der modernen Welt erschlossen, das Mittelalter dem Privileg der »academy« entrissen, die verkalkten Fachgrenzen heutiger Mittelalterforschung zerbrochen werden – das hätte man innovativ vor rund 70 Jahre schreiben können –, soll zugleich aber ein Überblick über die gegenwärtigen Tendenzen zeitgenössischer Mediävalismen gegeben werden. Das sind hoch gesteckte Ziele, und die Herausgeberinnen versprechen »radical, exciting, informed and innovative readings of the importance and prominence of the Middle Ages« (15). Das Buch ist in vier Sektionen unterteilt: »Teaching«, »Digitizing«, »Fetishizing« (jeweils) »the Medieval« sowie »Manipulating the Post-Medieval«.
In den vier Beiträgen des ersten Teils, die insgesamt wenig Überraschendes bieten, geht es um das Mittelalter in der Lehre, und zwar durchweg um die Propagierung scheinbar unorthodoxer Herangehensweisen vor dem Hintergrund anglo-amerikanischer Praxis. Der erste Beitrag von Dhwani Patel und Gemma Plumpton vermittelt am Beispiel einer Unterrichtseinheit über die Seidenstraße, dass Geschichte mehr ist als Königsgeschichte, um zugleich das Aufbrechen westlicher Perspektiven nahezubringen. Nur das Letztere entspräche aktuellen Debatten. Der Beitrag von Jonathan Sellin und Jacob Olivey will schlicht das Ernstnehmen mittelalterlicher Menschen und Kultur im Schulunterricht propagieren, um den Schülern die »fascinating world« des Mittelalters vorzuführen. Mit »Pulling Ranke« machen Andrew B. R. Elliott und Mike Horswell auf die Unvermeidlichkeit des »Präsentismus« im »medievalism« aufmerksam, um das Verhältnis von Mittelalter und Gegenwart durch »Kodierung« (encoding) und »Dekodierung« (decoding) des »medievalism« in der schulischen Lehre zu klären, indem sie über die Mittelalterrezeption mit ihrer »presentist contextualization« zur Vergangenheit gelangen. Der Beitrag von Ariana Ellis ist dem (amerikanischen) Bachelor-Studium gewidmet und schlägt eine »fesselnde« und »widerhallende Pädagogik« (immersive pedagogy, resonant pedagogy) vor, welche die vorhandenen Mittelaltervorstellungen nicht ignoriert, um die »disorder of an adult learning« zu »matters of the heart« zu machen – hört man hier Steiner im Hintergrund heraus? – und dabei möglichst viele Studierende zu erfassen. Insgesamt liegen alle vier Beiträge auf derselben, recht einseitigen Linie: Der Weg zum Verständnis des Mittelalters setzt im heutigen Mittelalterverständnis an. Ob man damit der vergangenen Epoche gerecht wird, wird ebenso wenig hinterfragt wie die Praktikabilität solcher Ansätze im Unterricht.
Auch Teil 2, »Digitising the Medieval«, bringt nach so vielen Arbeiten zum Thema wenig Überraschendes und ist ebenfalls praxisorientiert. Euan McCartney Robson wendet digitale Methoden auf mittelalterliche Kunstwerke an, betont, dass diese eine Bedeutung tragen, die zu entschlüsseln ist, und wendet sich ansonsten der Personalisierung der Objekte zu. Jack Newman stellt exemplarisch die Möglichkeiten digitaler Textauswertung – »Research of the past is now digital« (119) – am Beispiel der alten, jetzt digitalisierten Quelleneditionen der Lincoln Record Society vor. Während die Erstellung von Namenlisten allbekannt ist, birgt die Interpretation nach quantitativem Vorkommen bestimmter Wörter (hier zum Thema »Gewalt«) ohne entsprechende Reflexionen allerdings durchaus Gefahren. Mit »Teaching Medieval(isms) via Digital Technology« suchen Kenna L. Olsen, Cosmo Christoffersen und Samantha Purchase Wege des »Transcending Boundaries for Medieval Studies«, um deren völlig veraltete Methoden aufzubrechen und Zeit- und Raumgrenzen zu überwinden, indem das Klassenzimmer zu einem »immersive studio« wird, und um über das Internet mittelalterliche Quellen in Amerika zugänglich zu machen. So neu ist freilich auch das nicht. Vier Fallbeispiele sollen das verdeutlichen: »The Visualization Classroom«, »World Building in the Immersion Studio«, »Medieval Immersive Literature via Performance« und »Medieval Twitter« (gemeint ist damit: Kommunizieren der Gedanken über Twitter). Was in den vorangegangenen Beiträgen anklang, wird hier auf die Spitze getrieben: Die neuen Medien sind nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck, demgegenüber alle Inhalte verblassen. Fast noch seltsamer ist der Beitrag von Leila Rangel Silva Geroto über die digitale Fragmentierung des Book of Kells und ihre Vermarktung im Trinity College Giftshop, bei dem die Fragmente, wie ich den Text verstehe, wiederum auf die soziale Bedeutung des Ganzen verweisen sollen.
Nicht minder seltsam muten die drei Beiträge des dritten Teils über das Mittelalter als Fetischismus (»Fetishizing the Medieval«) an. Aus einem Vergleich mit dem Popsong SexyBack von Justin Timberlake mit Sir Gawain and the Green Night schließt Kenna L. Olsen, die ein »Othering« des Mittelalters als methodischen Fehler betrachtet, wie »truly sexy« Sir Gawain ist. Was für eine Erkenntnis! Meriem Pagès stellt fest, dass Königinnen in modernen Filmen gern wie im 19. Jahrhundert »orientalisch« gekleidet, aber tapfer und unabhängig dargestellt werden. Martine Mussies schließt aus drei »Fanfiction« (Fantasy fiction)-BDSM-Produkten – die Abkürzung wird nirgends aufgelöst – über König Alfred, sämtlich aus dem Jahr 2021, vor dem Hintergrund des »historischen« Königs, dass die Autoren aus allen möglichen »Quellen« (einschließlich Computerspielen) Anleihen entnehmen, frei mit der Geschichte umgehen und gerade damit Möglichkeiten für »alternative storylines« (nicht zuletzt wieder Erotik) nutzen können: Mittelalterliche Elemente – tatsächlich sind das jedoch wieder jetzige, populäre Vorstellungen vom Mittelalter – helfen »to construct an ›other‹ to contrast with one’s own identity« (234). Fanfiction solle daher als »playable model of the ›Medieval‹« dienen (233). Muss man das noch kommentieren? Mit dem Mittelalter haben die Beiträge dieser Sektion über heutigen »medievalism«, die zudem weithin beschreiben und feststellen, statt zu interpretieren, nichts mehr zu tun.
In der letzten Sektion über »Manipulating the Post-Medieval« – darum war es eigentlich auch vorher schon vielfach gegangen – analysiert Renée Ward die »Gothic Spaces« am Hofe Arthurs in E. L. Harveys Roman The Feast of Camelot von 1863/1877. »Gothic« im damaligen englischen Sprachgebrauch für die »dark ages« verstanden, zeige sich vor allem in Arthur’s Gegenbild des Barbaren Talmor im rassischen und diabolisch-monströsen Anderen in fernen Ländern. Einerseits feiere Harvey die christlichen Werte einer patriarchalischen Gesellschaft, die durch starke Frauenfiguren andererseits aber untergraben werde. Euan McCartney Robson deckt auf, dass der dritte amerikanische Präsident Thomas Jefferson ein begeisterter Sammler alt- und mittelenglischer Handschriften und Bücher war, der das englische pre-Conquest Mittelalter als Modell moderner Regierung betrachtete (Das ist sicher lobenswert, macht ihn aber noch nicht zum »medievalist«.) Andererseits habe er aber auch die Sklavenbefreiung behindert. Sein Beispiel erinnere uns, so der Autor, der Historiker eines »nostalgic appetite« verdächtigt, »that we must still view it [= our period] in Otherly ways too« (268). Im letzten Beitrag (»V for Viking«) nimmt Howard Williams die Szene der Seebestattung der verbrannten Leiche eines Wikingers im »graphic novel« V for Vendetta zum Anlass, die Forschung zu ermahnen, aus der Faszination und dem »diverse intellectual recreative space« der »popular culture« bezüglich der Wikinger zu lernen, deren Potenzial zu Kritik und Herausforderung zu nutzen und »Vikingism« zu erforschen (während er gleichzeitig vor rechtsextremistischem Missbrauch des Wikingerbildes warnt …).
Das Buch lässt wissenschaftliche Leser und Leserinnen ratlos zurück. Die Titelfrage »What is Medieval?« bleibt explizit unbeantwortet. Implizit ließe sich als Antwort folgern: alles, was wir heute mit dem Mittelalter verbinden. Tatsächlich geht es durchweg um die heutige Sicht vom Mittelalter in populären (nicht einmal populärwissenschaftlichen) Medien. Nirgends finden sich Ansätze aufzuzeigen, wie gegenwartsbezogen verzerrt unser Mittelalterbild ist, oder den Gegenwartsbezug populärer Mittelaltervorstellungen zu entlarven. Der jeweilige Mediävalismus wird fast durchweg nur beschrieben, ohne kritisch überdacht oder wenigstens kommentiert zu werden. Man fragt sich auch, an wen sich das Buch richten könnte. Wissenschaftlich bringt es nichts, ja die wissenschaftliche Mediävistik wird eher ausgeklammert als einbezogen und kann eigentlich nur verärgert reagieren. Der Vermittlung in Schule und Universität werden ein paar Anregungen gegeben, aber nicht didaktisch aufbereitet. Den meisten dürfte das hier Präsentierte auch nicht sonderlich neu sein. Geradezu bedenklich aber erscheint es, dass die Grenzen zwischen einer wissenschaftlichen Mediävistik und modernen Mediävalismen hier bewusst völlig eingeebnet werden. »Medievalisms« gewinnen die Oberhand über Medieval Studies, deren Aufgabe (auch) eine kritische Durchleuchtung der heutigen »popular medievalisms« wäre. In der Schule (nur noch bedingt auch in der Universität) könnten »medievalisms« durchaus ein allererster Zugang zum Mittelalter sein, der anschließend kritisch zu hinterfragen ist. Hier werden sie jedoch, mindestens gleichwertig mit dem Forschungsstand, zum Thema schlechthin propagiert, werden Wissenschaft und »medievalisms« nahezu in eins gesetzt. Wenn das die künftige Ausbildung ist, haben Historikerinnen und Historiker ausgedient.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hans-Werner Goetz, Rezension von/compte rendu de: Claire Kennan, Emma J. Wells (ed.), What is Medieval? Decoding Approaches to the Medieval and Medievalism in the 21st Century, Turnhout (Brepols) 2023, 288 p., 50 fig. (Reinterpreting the Middle Ages, 2), ISBN 978-2-503-60068-0, DOI 10.1484/M.NEO-EB.5.129991, EUR 95,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111125