Die vorliegende Monographie widmet sich der Sakramentarproduktion in Saint-Amand im späteren 9. Jahrhundert. Ziel ist dabei eine Untersuchung von Schrift, Buchmalerei und liturgischem Inhalt der Sakramentare. Wo notwendig werden Texte außerhalb der Sakramentartradition und Vergleichshandschriften herangezogen. Westwell gelingt dabei eine überzeugende liturgiehistorische Einordnung der Sakramentare, die Saint-Amand als Ort der Schriftproduktion und Ausgangspunkt liturgischer Innovationen in den Blick nimmt. Liturgische Reformen und Veränderungen, so betont Westwell immer wieder, sind nicht als Top-down-Prozess zu werten, sondern ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit der Liturgie. Ob darin die agency einzelner Schreiber zu erkennen ist, bleibt jedoch zu hinterfragen.
Westwell geht im ersten Kapitel zunächst auf die Sakramentarproduktion im Allgemeinen ein, wobei er die Sakramentartypen des Gelasianum und Gregorianum definiert und einen Überblick über die verschiedenen Mischformen und Supplemente gibt. Damit schafft der Autor eine essentielle Grundlage für die folgenden liturgischen Fragestellungen. Dass die Handschrift Oxford, Bodleian Library, Ms. Auct. D. I. 20 ein Reichenauer Produkt ist und nicht in St. Gallen geschrieben wurde,1 bestärkt Westwells Argument, dass auf der Reichenau der Zugang zum Hucusque-Supplement oder Teilen davon bestand, während gleichzeitig auch ältere Formen abgeschrieben wurden.
Im zweiten Kapitel widmet er sich genau den einzelnen überlieferten Sakramentarhandschriften aus Saint-Amand sowie einigen weiteren Vergleichsbeispielen des Skriptoriums. Westwell ordnet die Schrift einzelner behandelter Codices in der Entwicklung des Skriptoriums von Saint-Amand zwischen dem Arn-Stil und der Schrift der franko-sächsischen Schule ein. Außerdem geht er dabei auf einzelne Akteure des Klosters und Skriptoriums von Saint-Amand ein, Hucbald und den Abt Gauzlin.
Die Betonung des Griechischen, die in den nomina sacra mit der Verwendung der Buchstaben Eta und Sigma deutlich wird, ist ein Phänomen des späten 9. Jahrhunderts. Westwell nutzt die Schreibung der nomina sacra zur Datierung der Sakramentare aus Saint-Amand, wobei er sich an der über das Widmungsgedicht einzig sicher zu datierenden Handschrift Paris, BnF, latin 2 (871–873) orientiert. Der Autor stellt so eine Chronologie der Handschriften auf, ohne dabei andere Aspekte der Schrift in diese Analyse einzubeziehen: Während diese zweite Bibel Karls des Kahlen beide Schreibweisen IHS und ihs vereint, seien die Schreiber von Saint-Amand in den 70er- und 80er-Jahren des 9. Jahrhunderts dazu übergegangen, ausschließlich IHS zu schreiben. Es handele sich dabei um eine Praxis, die jedoch von einzelnen Schreibern gegen Ende des 9. Jahrhunderts wieder abgelegt worden sei. In der Buchmalerei ließen sich zeitgleich auftretende Veränderungen ausmachen.
Im dritten Kapitel untersucht Westwell die komplexe Struktur der Sakramentare. Es habe im Gegensatz zu anderen Orten der Sakramentarproduktion in Saint-Amand keine großen Bestrebungen gegeben, den gregorianischen Text möglichst intakt zu halten. Stattdessen sei es eher darum gegangen, die Varianz der verschiedenen liturgischen Texte abzubilden und sie zu erhalten. Angesichts der Frage nach der Überlieferungssituation ist dabei etwas Vorsicht angebracht. Die vorgenommenen Veränderungen und Ergänzungen zum Gregorianum stehen dabei im Fokus. Durch Ergänzung von Elementen aus dem Gelasianum entstand eine »gelasianisierte« Form des gregorianischen Sakramentars (Hadrianum).
Anlassbezogene liturgische Ergänzungen und Votivmessen sind der Fokus des vierten Kapitels. Votivmessen wurden in das liturgische Corpus von Saint-Amand integriert. Den Entwurf neuer liturgischer Texte in Saint-Amand schreibt Westwell Hucbald zu und stellt dabei Vermutungen zu dessen Autograph auf. Statt »Valenciennes, BM, Ms. 142« muss es hier (324–325), wie an anderer Stelle richtig angegeben, »Ms. 174« heißen. Schließlich bildet Westwell in Kapitel fünf die Rezeption der Sakramentare aus Saint-Amand über das 9. Jahrhundert hinaus ab.
Insgesamt liefert Westwell eine überzeugende Abhandlung über die verschiedenen Sakramentartypen und die Entwicklung der Liturgie am Beispiel von Saint-Amand. Eine Besonderheit des Schreibzentrums ist die Komplexität der dort entstandenen Sakramentare. An ihnen verdeutlicht Westwell überaus treffend, dass liturgische Reform nicht bedeutet, einen einzigen mustergültigen Sakramentartext herzustellen, sondern die Handschriften aus Saint-Amand das Ergebnis einer stetigen Auseinandersetzung mit der Liturgie darstellen. Eine tiefergreifende paläographische Untersuchung würde sich sicher als gewinnbringend erweisen. Besonders positiv zu bewerten ist, dass das Buch im Open Access erschienen ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jule Meyer, Rezension von/compte rendu de: Arthur Westwell, The Carolingian Sacramentaries of Saint-Amand. Art, Script, and Liturgical Creativity in an Early Medieval Monastery, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2024, XXVI–488 p., 6 tab., 1 fig., 38 col. fig. (Research in Medieval and Early Modern Culture, 39), ISBN 978-1-5015-2120-1, DOI 10.1515/9781501517563, EUR 99,95., in: Francia-Recensio 2025/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111127