Bekommt man Laurenz Lüttekens Zauberflöten-Buch in die Hände, ist man sogleich mit mehreren Thesen des Mozartexperten konfrontiert, ohne nur ein einziges Wort des Bandes gelesen zu haben. Schon das Coverbild nämlich macht stutzig, zählt es doch keineswegs zu den ikonisch gewordenen Bildnissen, die man üblicherweise mit der Zauberflöte verbindet. Mit diesem klug gewählten Beispiel aus der Transparentmalerei von Andreas Nesselthaler, den Lütteken als möglichen Bühnenbildner für die Uraufführung der Zauberflöte ins Spiel bringt (75), versetzt der Autor den Leser bzw. die Leserin in ein von Melancholie gezeichnetes Setting. Die Uferlandschaft mit Mondszenerie schlägt sogleich eine Brücke zu Lüttekens Annahme, dass die Zauberflöte erst vor dem Hintergrund einer Zeit zu verstehen sei, die den aufklärerischen Zukunftsoptimismus verloren habe. Die Phase nach dem Tod Josephs II. stellt die zeitgeschichtliche und politische Achse dar, die die Koordinaten liefert, auf deren Basis der Autor das so häufig (auch miss-)interpretierte Werk neu vermisst. Zentral ist es für ihn, in der Einleitung hervorzuheben, dass die Widersprüche in der Zauberflöte keineswegs Rätsel darstellten, sondern diese »vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts und anhand zahlreicher, mitunter entlegener, immer aber aussagekräftiger Quellen« (15) dechiffriert werden müssten. Die Entschlüsselung erfolgt dann in sieben Kapiteln, die keine stringente Neuinterpretation von Mozarts »großer Oper« liefern.

Im ersten Kapitel »Konturen eines Auftrags« (35–62) schlägt Lütteken vor, die Vorstellung, Mozarts Lebensende als Abstiegsszenario zu zeichnen, endlich aufzugeben und eine Gegenerzählung zu erproben, die die Konsolidierung seiner Umstände im letzten Lebensjahr, sein immenses Arbeitspensum wie seinen von Melancholie geprägten Ton vor dem Hintergrund einer neuanbrechenden Zeit würdige. In diese Deutung lässt sich auch die »sofort einsetzende, ungeheure Erfolgsgeschichte« (57) des Werkes weit besser als bis dato erfolgt einfügen, die im Abschnitt »Publikum« thematisiert wird, bevor Lütteken den von Mozart für die Zauberflöte gewählten Terminus der »großen Oper« im zweiten Kapitel »Größe und Wahrhaftigkeit« (63–90) seziert. Mozart trifft die Wahl der Bezeichnung bewusst, um seine Zauberflöte von einer »vera opera« zu unterscheiden. Das ließ ihm den Spielraum, »der Fülle selbst der unwahrscheinlichsten Dinge Raum« (68) zu geben. Und für Unwahrscheinliches, Ungefähres wie auch für Unschärfe ist die Zauberflöte bekannterweise prädestiniert, folgt sie doch keinem stringenten Handlungsstrang, es geht »nicht mehr um das Dargestellte, sondern um die Darstellung selbst« (72). Der Musik kam hier die entscheidende Rolle zu, sie war nicht mehr nur für das Illustrieren des Geschehens zuständig; vielmehr konnte sich die Fülle der Erscheinungen in ihrem »eigentlichen Sinn erst in der und durch die Musik entfalten« (81). Wie der Komponist dies bewerkstelligte, illustriert Lütteken in den Kapiteln III bis VI, indem er aus den Themenbereichen »Orte und Landschaften« (91–131), »Objekte« (133–156), »Chiffren« (157–182) sowie »Affekt und Ausdruck« (183–209) Beispiele herausgreift und den theoretischen – mitunter mit kaum bekannten Quellen unterfütterten – Diskurs anschaulich mit Mozarts Werk verbindet.

An Taminos Liebesgesang wird dies in Bezug auf den Aspekt des Unwahrscheinlichen besonders greifbar: Der Protagonist verliebt sich im vierten Auftritt des ersten Akts schlagartig nicht etwa in eine Person, sondern – gänzlich unnatürlich – in ein Objekt, nämlich in das Bildnis Paminas. Er drückt diesen Vorgang in einem Gesang aus, der keiner der zeitgenössisch üblichen Arienformen folgt. Tatsächlich folgte Mozart dem Sonett, das im späten 18. Jahrhundert als »Muster gesteigerter, ja absoluter Künstlichkeit« (137) galt, bei der kompositorischen Umsetzung nur bedingt. Ganz bewusst lockerte er dergestalt die strenge Textvorlage auf und schuf ein musikalisch unscharfes Gebilde, das die Unnatürlichkeit von Taminos Akt des Verliebens unterstreicht.

Die frisch entflammte Liebe ist dann Katalysator für das zentrale inhaltliche Motiv der Oper: die Prüfungen, die Tamino in Teilen mit Pamina bestehen muss, um diese zu gewinnen (was ihm dann mithilfe der Zauberflöte gelingt). Auch im Fall des Prüfungsrituals findet sich viel Unscharfes, folgt es doch im Laufe der Oper keinem systematischen Ablauf. Darüber hinaus werden nicht alle vorgesehenen Prüfungen durchexerziert; zum Beispiel entfallen beim lebensgefährlichen Gang durch die vier Elemente gleich zwei von ihnen. Lütteken erörtert diese Problematik im Kapitel »Chiffren«und nimmt von der gerne gewählten Interpretation Abstand, die Prüfungen als lupenreines Freimaurer-Ritual einzuordnen. Dagegen spreche schon, dass sich im reinen Männerbund Frauen nicht am Prüfungsritual beteiligen dürften, wie es Pamina tut. Der Autor legt vielmehr überzeugend dar, die Prüfungsszenerie als hybride »Mischung ganz unterschiedlicher, widerstreitender Figurationen« (163) zu verstehen, die sehr wohl freimaurerische Züge aufwiesen, aber wie die Wasser- und Feuerprobe eben nicht auf diese beschränkt blieben. Es sei ein konsequenter Wesenszug der Oper, das Vage zu akzentuieren. Dass Mozart dabei »in immer heiklere Grenzbereiche« vorstieß, »die in immer stärkerem Maße die Frage von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit auf ganz neue Weise berührten«, wird von Lütteken in einem eigenen Unterkapitel thematisiert.

Damit ist der Band bei seinen zentralen Ausführungen angelangt, die die opernästhetische Diskussion des 18. Jahrhunderts schlechthin betreffen: diejenige nach der Diskrepanz zwischen der die Vernunft fordernde Unwahrscheinlichkeit singender Akteure und Akteurinnen einerseits und der Wirkmacht der Oper andererseits. In diese Diskussion ist Mozart weniger theoretisch als musikalisch involviert, indem sich »die Grundsatzfragen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit nicht bloß weiter zugespitzt [haben], sondern sie sind auf eigentümliche, verwirrende Weise zum Gegenstand der Bühnenhandlungen [der Zauberflöte] geworden« (195). Das forderte schon die Zeitgenossen heraus: Im abschließenden Kapitel Melancholie zeigt Lütteken am Beispiel der Weimarer Aufführungsserie unter der Leitung Goethes auf, welche Lösungen zu den »kontroversen Deutungen« (226) der Zauberflöte schon seinerzeit gefunden wurden. In diesem Fall sorgte Christian August Vulpius für eine Bearbeitung, die in weiten Strecken zur Neutextierung von Mozarts »einzigartiger Musik« (228) führte, um eine stringente Erzählung zu erreichen und der »vermeintlich erhabenen Musik einen erhabenen Text an die Seite zu stellen« (232). Und dabei blieb es nicht: Goethe selbst erarbeitete eine Fortsetzung der Zauberflöte – »eine Art Über-Zauberflöte« (232), die aber schließlich auf Musik verzichtete, Fragment blieb und »der Zauberflöte ein weiteres Rätsel« hinzufügte (235).

Die Stärke von Lüttekens Band ist, dass er keine glatten Lösungen liefert; dies ist ein Umstand, der wohl so manchem Mozart-Kenner und so mancher Mozart-Kennerin missfallen mag. Der Band – und damit sticht er aus der breiten einschlägigen Forschung heraus – hält vielmehr ein großes Tableau an Thesen bereit, die nicht alle verifiziert werden (können), gleichwohl wichtige Denkanstöße auf breiter Quellenlage liefern. Sie sind in ausgesprochen anregender Form formuliert und nicht nur an das wissenschaftliche Fachpublikum adressiert. Vielmehr eröffnen sich mit einem solchen Zugriff auch dem interessierten Laien neue Wege zur Rezeption, gleichermaßen der Regie und der Dramaturgie bei ihren Zugriffen auf die Zauberflöte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Andrea Zedler, Rezension von/compte rendu de: Laurenz Lütteken, Die Zauberflöte. Mozart und der Abschied von der Aufklärung, München (C. H. Beck) 2024, 272 S., 19 Abb., ISBN 978-3-406-81502-7, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111339