In ihrer neuen Publikation präsentiert Silvia Marzagalli die Ergebnisse ihrer quantitativen Forschung zur maritimen Wirtschaftsgeschichte Frankreichs im späten 18. Jahrhundert. Dabei geht es ihr ausdrücklich nicht darum, ein Fachpublikum anzusprechen. Sie möchte mit diesem Werk vielmehr eine breite Öffentlichkeit und insbesondere Studierende erreichen. Ihr Atlas soll diesem Publikum zum einen die Vielfalt und Komplexität des historischen französischen Seehandels näherbringen und es zum anderen – und dies ist ihr besonders gut gelungen – über die Grundlagen historischen Arbeitens sowie neue Methoden aus dem Bereich der Digital Humanities informieren.
Angesichts des allgemein gehaltenen Titels ist eingangs hervorzuheben, dass dieser Atlas in beeindruckender thematischer Breite und analytischer Tiefe Handelsschifffahrt und Fischerei in den 1770er- und 1780er-Jahren thematisiert. Informationen zur Organisation der Kriegsmarine und ihrer Operationen sind kaum enthalten, außer zum Schiffbau und zu drei Pazifikexpeditionen. Dies ist lediglich als Hinweis für die Leserschaft gedacht, nicht als eine Kritik.
In ihrer Einleitung präsentiert Marzagalli kurz und präzise den Forschungsstand sowie die Grundlage ihres Buches. Sie veröffentlicht hier Ergebnisse quantitativer Forschungsprojekte, deren Mitwirkende serielle Quellen des 18. Jahrhunderts erfasst und in Datenbanken aufbereitet haben, insbesondere Navigocorpus (http://navigocorpus.huma-num.fr/) und Portic (https://anr.portic.fr/en/home/).
Im ersten und zweiten Kapitel erläutert Marzagalli die Quellenbasis der beiden Datenbanken sowie ihres Buches und ordnet sie in den historischen Kontext ein. Sie beschreibt das 18. Jahrhundert als eine Zeit zunehmender Sammlung von Informationen durch die französische Obrigkeit, welche die Küsten mit immer genaueren Karten und die Seefahrenden und ihre Reisen mit immer detaillierten Listen erfasste. Eindrücklich zeigt sie, wie versucht wurde, möglichst viele Informationen über alle Schiffe zu sammeln, die in französische Häfen einliefen – eigene ebenso wie fremde. Bei Schiffen unter fremder Flagge erfassten Amtsträger Heimat- und Zielhäfen sowie die Ladung, während bei französischen Schiffen umfangreiche Angaben zu allen Besatzungsmitgliedern hinzukamen. Diese Informationen waren zum einen für die Steuer- und Zollbehörden von Interesse, aber auch für die Admiralität, da alle französischen Seeleute als Reserve für die Marine gezählt wurden.
Diese seriellen Quellen bilden – mit Fokus auf das Jahr 1787 – die Grundlage des Atlas. Hinzu kommen Informationen, die von Sanitätsbehörden in Marseille über einlaufende Schiffe erhoben wurden. Zur Pestprävention war hier eine genaue Auflistung der Passagiere, Reiserouten und Ladung vorgeschrieben, anhand derer Behörden über die Verhängung einer Quarantäne und deren Dauer entschieden.
In sieben inhaltlichen Kapiteln präsentiert Marzagalli gestützt auf diese Daten unterschiedliche maritime Handlungsräume und Verflechtungen. Hierzu gehören ein Vergleich der französischen Häfen anhand ihrer Bedeutung für Im- und Export und den Schiffsbau sowie anhand ihres jeweiligen Anteils an lokalen, regionalen, nationalen oder grenzübergreifenden Verflechtungen. Dabei zeigt Marzagalli Nutzen, aber auch Grenzen dieser unterschiedlichen Maßstäbe auf. Neben der französischen Handelsschifffahrt thematisiert sie die Präsenz fremder Schiffe in französischen Häfen sowie die nach lokaler, regionaler und transatlantischer Ausrichtung differenzierte Fischerei. Auch die französische Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel – basierend auf den Daten von Slavevoyages (https://www.slavevoyages.org/) – und am Asienhandel werden ebenso wie Pazifikexpeditionen in eigenen Kapiteln dargestellt. Den Abschluss bildet ein Einblick in ein Spezialgebiet der Herausgeberin: Das mediterrane Frankreich und die Entwicklung des Mittelmeerhandels zur Zeit zunehmender globaler Verflechtung.
Betrachtet man das Werk in Gänze, so fällt auf, dass Marzagalli meistens Daten aus einem Stichjahr mit besonders guter Überlieferung visualisiert. Der größte Teil der Karten zeigt Informationen aus dem Jahr 1787. Dabei handelt es sich mehrheitlich um die Tonnage von Im- und Exporten, die Ziel- und Herkunftshäfen der Schiffe sowie Angaben zur Ladung. Die grafische Aufbereitung hat dabei fast immer die Form einer Karte auf der Tortendiagramme oder Kreise unterschiedlicher Größe jeweils mit Zahlenangaben die Daten und deren Relationalität visualisieren.
Deutlich seltener, aber wichtig für die Konkretisierung abstrakter Zahlen sind Visualisierungen von Fallstudien. Marzagalli ermöglicht ihren Lesern, einzelnen Schiffe mit ihren Routen und Ladungen auf den Karten zu folgen und beschreibt in Begleittexten die Umstände der Reisen.
Über die eigene Datengrundlage hinaus nutzt Marzagalli auch Arbeiten anderer Forschender als Grundlage für ihre Karten. Dies ist in einem eigenen Anhang genauer nachgewiesen. Die Ergänzungen sind gut gewählt, weil sie ermöglichen, den dargestellten Zeitraum zu erweitern oder neue inhaltliche Aspekte beispielsweise zum transatlantischen Sklavenhandel aufzunehmen.
Die Begleittexte sind der gewünschten Zielgruppe entsprechend leicht verständlich und spiegeln den aktuellen Stand der Forschung wider. Marzagalli erklärt die Grundlage und Methodik ihrer Recherchearbeit und ordnet zugleich ihre Befunde kenntnisreich in einen historischen Überblick ein. Darin greift sie auch in das 17. und 19. Jahrhundert aus. Hervorzuheben ist, dass ihr Text kaum Kenntnisse der Materie voraussetzt, da sie selbst grundständige Hintergründe erläutert. Etwas ungewohnt ist allerdings, dass Zitate in den Begleittexten nicht vor Ort oder mit Endnoten nachgewiesen sind, sondern in einem eigenen Anhang, der alle Nachweise mit Kapitel- und Seitenbezügen enthält.
Nur am Rande sei bemerkt, dass der Atlas zusätzlich viele Reproduktionen teilweise wenig bekannter historischer Bildquellen in herausragender Qualität enthält, wie Hafenansichten, Festungspläne, Seekarten oder Schiffsdarstellungen. Hierin liegt ein zusätzliches Potenzial, um das Werk in der akademischen Lehre zu nutzen.
Insgesamt ist Marzagallis Werk in mehrfacher Hinsicht sehr gut gelungen. Es bietet eine ansprechende Aufbereitung komplexer quantitativer Daten unterschiedlicher Provenienz – meist aus dem Jahr 1787 – und darüber hinaus einen informativen und leicht verständlichen Überblick über die maritime Wirtschaftsgeschichte Frankreichs am Vorabend der Revolution. Da die Autorin außerdem anschaulich neue Methoden der Geschichtswissenschaft erläutert und gewissermaßen Einblicke in die Werkstatt der Historikerinnen und Historiker eröffnet, ist diesem Buch eine breite Leserschaft und eine hohe Resonanz in der Lehre zu wünschen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jan Simon Karstens, Rezension von/compte rendu de: Silvia Marzagalli, Atlas de la navigation en France à la veille de la Révolution. Une effervescence portuaire, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2023, 224 p. (PUR-Atlas), ISBN 978-2-7535-9283-4, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111341