Musik und Geschichte stehen als »Musikgeschichte« schon seit Langem in einer Symbiose. Bis Musik- und Geschichtswissenschaften auch interdisziplinär enger zueinanderfanden, dauerte es bis zu den durch die Kulturtransferforschung angestoßenen Großprojekten Musical Life in Europe 1600–1900. Circulation, Institutions, Representations und Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Musikkulturen europäischer Metropolen im »langen« 19. Jahrhundert in den 2000er-Jahren. 2010 brachte Sven Oliver Müller explizit einen musical turn in den Geschichtswissenschaften ins Spiel.1 Angeschlossen haben sich disziplinäre Gegenstandserschließungen, interdisziplinäre Selbstvergewisserungen über die Kooperationsfähigkeit, Themensetzungen wie musical diplomacy sowie eine ergiebige empirische Forschung.2 Die Historikerin Celia Applegate sprach sogar emphatisch vom »interdisziplinären Schengen-Raum«.3
Doch lädt hier nicht nur die Polykrise der europäischen Integration samt Wiedereinführung von Grenzkontrollen dazu ein, hinsichtlich der interdisziplinären Freizügigkeit noch einmal genauer hinzusehen. Die meisten bisherigen musikgeschichtlichen Beiträge haben zeitlich das 19. und 20. Jahrhundert in den Blick genommen. Daher legt der auf eine Regensburger Tagung 2021 zurückgehende Band einen Akzent auf die Frühe Neuzeit und konturiert diese musik- wie geschichtswissenschaftlich (hinzu kommt die Kirchengeschichte) als eigene Epoche. Die epochenspezifischen methodischen und quellenpraktischen Herausforderungen umreißt der Musikwissenschaftler Klaus Pietschmann in einer der gleich drei Einführungen (die disziplinenlogische Ausbalancierung fordert ihren eigenen Raum). Harriet Rudolph lädt die geschichtswissenschaftliche Frühneuzeitforschung dazu ein, einen »defensiven Tenor« in der Beschäftigung mit Musik abzulegen, die notwendige Vertiefung aber nicht durch den Übereifer »überbordender theoretischer Reflexion oder gar kulturalistischer Verschwurbeltheit« zu kaschieren (44). Die Profilierung der Frühen Neuzeit geschieht dann, so der Gesamteindruck des Bandes, eher in der Addition der Einzelstudien als durch deren innere Verknüpfung oder zeitliche Reichweite. Die meisten Beiträge präferieren zwischen dem späten 15. und mittleren 18. Jahrhundert enger umgrenzte Untersuchungszeiträume.
Interdisziplinäre Kooperationen, die Zweierbeziehungen zwischen Fächern in den Vordergrund rücken, stehen zugleich vor der Herausforderung, diesen Bilateralismus zu begründen, ohne andere Konstellationen, etwa zwischen Geschichte und Kunstgeschichte, zwischen Musik- und Literaturwissenschaft, auszuschließen. Daher treffen sich hier Musik- und Geschichtswissenschaften mit gutem Grund auf dem thematischen Terrain der Politik bzw., wie die Herausgeberinnen deutlich machen, in einem erweiterten, symbolische Inszenierungen und kommunikative Prozesse miteinbeziehenden Bereich des »Politischen«.4 Weder die Wahl des Rahmenthemas noch die Gliederung des Bandes in die Bereiche Konfession, Diplomatie, städtischer Raum, Hof und Medien überraschen an sich. Der einschlägige Mainstream steht vielmehr für die Selbstverständlichkeit und interdisziplinäre Produktivität des cultural turn.
Zu Recht schreibt der Historiker Volker Reinhardt in seinem Schlusskommentar, dass hier »sperrangelweit geöffnete Türen« (341) eingerannt werden. Seine musikwissenschaftliche Kollegin Sabine Meine präzisiert in ihrem Kommentarpendant in wohltuender Entspanntheit noch einmal, was das für die forschungspraktische Operationalisierung bedeutet: »Der Analyseauftrag von ›Musik als …‹ impliziert für uns Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler die Bereitschaft, die Funktionalität von Musik vor ihre künstlerische Eigenheit zu setzen, hingegen für Historikerinnen und Historiker, auch Musik als selbstverständliche Quelle zu nutzen und ihre politische Aussagekraft zu sehen« (334). In der Tat zeigen die Fallstudien, wie gut es um die musical literacy auf historischer und die Bereitschaft zur Analyse von Inszenierung, Aufführungspraxis und Repräsentationsmustern auf musikwissenschaftlicher Seite steht.
Sehr zuzustimmen ist ferner Meines Plädoyer an die historische Adresse, von einer musikwissenschaftlichen, teilweise noch zu leistenden »kunstbezogenen Präzisierung« (335) von »Musik« und Sound zu lernen, zugleich aber »Klänge« nicht apriorisch von Musik zu trennen. Steht Margret Scharrer in ihrer Untersuchung der joyeuses entrées von Herrscherinnen und Herrschern in flämischen Städten eher auf der Sound-Seite, zeigt Jan-Friedrich Missfelder als Pionier des acoustic turn,5 wie aufschlussreich gerade die Übergänge von in Textform gedruckten Protest- und Spottliedern, teils mit Melodiekontrafakturen, zu im engeren Sinne musikalisierten Formen mit anderen Aufführungspraktiken sein können. Die eher empirisch konkreten als programmatischen Beiträge lesen sich durchweg mit Gewinn, gerade weil sie Facetten zeigen und nicht eine Agenda nach der nächsten setzen. Das Genre des Forschungsaufrisses wie bei Sabine Ehrmann-Herfort und Henning P. Jürgens zu musikalischen Friedensrepräsentationen bleibt eine Ausnahme.
Individuelle Präferenzen hängen vom disziplinären Hintergrund, den Themen und Zugangsweisen ab. Geht Jörg Billing in seiner Analyse von Heinrich Isaacs für den Konstanzer Reichstag 1507 geschriebenen Motette Sancti Spiritus und Christiane Wiesenfeldt in ihrer von Pierre de la Rues Missa de Septem Doloribus klassisch vom Werk aus, braucht Iain Fenlon einen zehnseitigen informativen Anlauf, damit in seinem Beitrag über das katholische Kirchenmusikleben in Córdoba um 1600 die Musik endlich zur Sprache kommt. Stefanie Freyer umgeht das notorische Problem der Wirkungsaporie von Musik auf internationale Beziehungen, indem sie den »Diplomaten« John Dowland in erster Linie als Informationsvermittler untersucht. Eine weitere Antwort auf die Frage des Einflusses von Politik auf Musik, vor allem aber umgekehrt, bieten repräsentationsgeschichtliche Zugänge zu musiktheatralischen Herrscherhuldigungen, wie bei Matthias Schnettger und Konstantin Hirschmann für den Habsburgerhof. Die Landeshistorikerin Britta Kägler und die Musikwissenschaftlerin Gesa zur Nieden bilden das einzige interdisziplinäre Tandem innerhalb eines Beitrags und erkunden mit dem Musiktheater am bayerischen und württembergischen Hof im 18. Jahrhundert ein im besten Sinne gemeinsames Terrain. Eher der Kategorie Repräsentation verschreibt sich auch Tobias C. Weißmanns Aufsatz, der in der Mediensektion die Festoper des Kardinalprotektors Pietro Ottoboni zur Geburt des französischen Thronfolgers 1729 als Machtinszenierung untersucht, jedoch Rezeptionsfragen ausspart. Eine gewisse Umständlichkeit in der Darstellung entsteht nicht nur durch das interdisziplinäre Zeremoniell des Bandes, sondern auch durch die Neigung etlicher Fallstudien zu extensiven Fußnoten, die den Haupttext nicht selten in die obere Seitenhälfte zurückdrängen.
Viele der Beiträge dieses Bandes hätten vermutlich der expliziten interdisziplinären Verklammerung nicht (mehr) bedurft, um sowohl innerhalb der eigenen Fachcommunity ihren Platz zu finden als auch von der jeweils »anderen« Seite (und weiteren Disziplinen) rezipiert zu werden. Insofern ist der Band in erster Linie eine praktische Aufforderung, sich weiter mit Musik und Politik – gerade auch rezeptionsseitig – zu beschäftigen und Epochengerüste in erster Linie als Hilfsmittel zu verstehen. Die gemeinsamen historisch-musikwissenschaftlichen Erkundungen lassen sich zudem problemlos auf weitere Bereiche ausdehnen: auf Musik und Markt, auf Musik und Infrastrukturen und nicht zuletzt auf die Musikerinnen und Musiker selbst. Wenn dabei im Dialog »zweier ohnehin affinen« (33) Fächer die jeweiligen disziplinären Zugänge dennoch erkennbar bleiben, ist dies gut so.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Friedemann Pestel, Rezension von/compte rendu de: Elisabeth Natour, Andrea Zedler (Hg.), Musik und Politik im Europa der Frühen Neuzeit. Methodische Öffnung und interdisziplinäre Vernetzung an der Schnittstelle von Geschichts- und Musikwissenschaft, Köln (Böhlau Verlag) 2024, 356 S. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 100), ISBN 978-3-412-52787-7, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111342