Galt die Diplomatiegeschichte lange als innovationsresistente Disziplin, hat sie sich von diesem Status erfolgreich verabschiedet. Einen besonders produktiven Zweig der boomenden Forschung stellt die akteurszentrierte Untersuchung von Verflechtung und Klientel- bzw. Patronagestrukturen dar. Die Dissertation von Regina Stuber schreibt sich in diesen erprobten Zugang ein und nimmt auf schlanken 257 Textseiten Johann Christoph von Urbich (1653–1715) in den Blick. Dieser hat bislang – wenn überhaupt – als Vertrauter des Universalgenies Gottfried Wilhelm Leibniz Beachtung gefunden. Stuber erweitert jene Perspektive erheblich, indem sie in ihrer quellengesättigten Studie Urbichs diplomatisches Handeln für einen Zeitraum von 20 Jahren offenlegt. Der Pastorensohn brachte es auf dem Höhepunkt seiner Karriere bis zum plenipotentiarius Zar Peters I. in Wien und baute ein transterritoriales Netzwerk auf, bevor dieses 1712 implodierte.
Über die biografische Komponente hinaus stößt Stuber in eine Leerstelle der Forschung. Längst interessiert man sich nicht mehr allein für hochadlige Spitzendiplomaten, sondern fokussiert niederrangige Akteure der »Kollektivpraxis Diplomatie«. Monografien zu Einzelpersonen der zweiten Reihe sind jedoch rar, da man materialtechnisch auf Glücksfunde angewiesen ist. Mit einem 300 Faszikel umfassenden Nachlass existiert ein solcher für Urbich, dem es erst über die diplomatische Laufbahn gelang, in den Adelsrang aufzusteigen. Stuber wertet das heterogene Corpus, das neben Briefen Protokolle und andere Formen pragmatischer Schriftlichkeit umfasst, entsprechend intensiv aus. Ihre zentrale These ist es, dass multiple Loyalitäten nicht nur bei Emissären ersten Ranges eine Rolle spielten, sondern für einen zeitweisen »Fachdiplomaten« wie Urbich ebenso essentiell waren.
Wenn das plastische Rekonstruieren von Urbichs weitverzweigten Netzwerken den Mehrwert der Studie darstellt, so geht mit dieser Stärke ein zentraler Kritikpunkt einher. Obwohl es schon aus arbeitspraktischen Gründen legitim ist, dass die Quellen den Rhythmus des Buches mitbestimmen, dominiert deren Verfasstheit die Darstellung streckenweise doch so stark, dass der methodische Zugriff darüber zu weit in den Hintergrund tritt. Das geht bereits aus der Gliederung hervor, die – exklusive Einleitung und Fazit – in sechs Hauptkapitel sehr unterschiedlichen Umfangs aufgeteilt ist und einer lockeren chronologischen Ordnung folgt. Während die Binnengliederung einiger Kapitel eine analytische Struktur ausweist (etwa III.3), erschließt sich bei anderen Unterpunkten und Exkursen die Funktion im Argumentationsgang nur begrenzt (etwa V.2) oder sie reihen sich eher deskriptiv aneinander (etwa in IV).
Einleitend werden zentrale Termini, Fragen und Methoden knapp konturiert, wobei hier und in späteren Passagen stärkere Anbindung an einschlägige Forschung sinnvoll gewesen wäre. Gerade weil Stuber generelle Aussagen über »multiple Loyalitäten in der frühneuzeitlichen Diplomatiepraxis« (13) treffen will, erschiene es für ein Verstehen des »Phänomens Urbich« wichtig, Vergleichsfälle heranzuziehen. So ist Mehrfachloyalität für Gesandte niederen Ranges tatsächlich noch nicht systematisch verhandelt worden, man hat aber solche Konstellationen für Akteure wie Andrea Da Burgo, Johann Ulrich Zasius oder Jaques Bongars beschrieben. Die Berücksichtigung kontextualisierender Arbeiten hätte Stubers am Fallbeispiel überzeugend entwickelter Thesen mehr Stoßkraft verliehen.
In Kapitel II geraten die Herkunft und ersten 37 Lebensjahre des in Creuzburg an der Werra geborenen Urbichs in den Blick. Schon in dieser Zeit wechselte er Dienstherren wie andere ihre Hemden. So arbeitete er Stubers Recherche zufolge Sachsen-Eisenach, der Kurpfalz, Braunschweig-Lüneburg sowie Hannover zu, und ist in Brüssel, Nimwegen, Wien sowie in den 1680er-Jahren auf dem Immerwährenden Reichstag in Regensburg nachzuweisen.
Urbichs Tätigkeit für Dänemark in Wien 1691 bis 1703 (39‑114), Aktivitäten für die Habsburger samt Rangerhöhung zum Reichsfreiherrn 1705 (115–120) und das Agieren als russischer Vertreter am Kaiserhof 1707 bis 1712 (121–242) bilden in Kap. III, IV und V den Kern der Arbeit. Für den dänischen Dienst belegt Stuber, dass der Gesandte Druck ausüben musste, um vom »Geschäftsträger zunächst ohne Kreditiv« (41) zum Envoyé zu avancieren. Er war an Projekten Dänemarks als broker beteiligt – darunter Allianzverträge mit Leopold I., Elbzollprivilegien, die Besetzung der Koadjutorstelle im Hochstift Lübeck, Widerstand gegen die neunte Kurwürde für Braunschweig-Lüneburg sowie eine Revision des Friedens von Traventhal. Stuber weist konsequent nach, dass es sich bei diesen Okkupationen nur um die formell überformten Elemente von Urbichs Schaffen handelt. Parallel etablierte er informelle Netzwerke, die ihm einerseits bei diesen Aufgaben halfen, andererseits in Form einer »›doppelt‹ geführten Korrespondenz« (71) für den eigenen Aufstieg nutzbar gemacht wurden. Untersucht werden der Ressourcenaustausch mit dem Dänen Thomas Balthasar von Jessen, die Bindung an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig‑Wolfenbüttel, Patronage im Umfeld des Kaisers und Kontakte mit dem kursächsisch‑polnischen Hof. »Dieses Netzwerk hatte bis zu seiner Entlassung aus dem russischen Dienst Ende 1712 Bestand« (95) und ist beispielhaft für die Unabhängigkeit der Verbindungen von offiziellen Dienstverhältnissen.
Seit 1707 strebte Urbich als Gesandter in Wien Russlands dynastisch-politische Verflechtung mit dem Alten Reich an. Weil von einer »faktischen Inkompatibilität dieser transterritorialen Loyalitätsverpflichtungen« (143) gegenüber Zar und Kaiser auszugehen sei, kann Urbichs Bemühen um Annäherung auch auf persönliche Motive zurückgeführt werden. Nach dem russischen Sieg bei Poltava 1709 arbeitete er weiter auf eine Allianz hin. Seine Entlassung 1712 fußte auf Illoyalitätsvorwürfen. Da er sich nicht auf familiäres Ehrkapital zurückziehen konnte, zerbrach das fragile Beziehungsgeflecht, was das Ende seiner Laufbahn besiegelte.
Nach dem isoliert wirkenden Kap. VII – das eher als Aufsatz hätte publiziert werden können – folgt ein Fazit, das mit fünf Seiten so kurz ausfällt, dass nur Teile des reichen Ertrags der Studie sichtbar werden. Zentrale Erkenntnis ist der Wert von Urbichs Beziehungsgeflecht, das ihn – trotz niedrigem diplomatischen Rang – für Fürsten attraktiv machte. Multiple Loyalität war also vorteilhaft, und so lässt sich das Paradoxon auflösen, dass er »selbst in seiner Funktion als Gesandter […] überwiegend auf informeller Ebene eingesetzt wurde« (264). Changieren zwischen formell und informell erweiterten Handlungsspielräumen, auch wenn ihm diese Flexibilität letztlich zum Verhängnis werden sollte.
Es lässt sich also folgendes zusammenfassen. Mit Stubers Dissertation liegt eine quellennahe Analyse der Netzwerke von Urbich vor, die unser Verständnis von Diplomatie um 1700 substantiell erweitert, da sie die skizzierten Logiken auf der selten fassbaren Ebene eines niederrangigen Akteurs en détail aufschlüsselt. Als Monita fallen die zu geringe Berücksichtigung relevanter Literatur und das passagenweise Entlangschreiben an Archivalien ins Auge. Die damit nicht durchgehend gegebene Kontextualisierung führt dazu, dass andere Lebensphasen des faszinierenden Vertreters einer Funktionselite zu kurz kommen und seine Verortung im Gefüge vormoderner Diplomatie eher unscharf bleibt. Trotz dieser Kritikpunkte hat Stuber eine kenntnisreiche und impulsgebende Arbeit vorgelegt, die zu weiterer Forschung anregen wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Georg Kaulfersch, Rezension von/compte rendu de: Regina Stuber, Multiple Loyalitäten und Transterritorialität. Aufstieg und Fall des Diplomaten Johann Christoph von Urbich (1653‑1715), Göttingen (V&R) 2024, 290 S. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 112), ISBN 978-3-525-30247-7, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2025/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.2.111349