Das Geschichtskomitee des Office français de protection des réfugiés et apatrides (Ofpra) legt mit Entre décolonisation et guerre froide [Zwischen Dekolonialisierung und Kaltem Krieg] den zweiten Band seiner Arbeit zur Geschichte des Asyls und der Flüchtlinge in Frankreich vor. Wie in dem ersten Band mit dem Titel Réfugiés et apatrides. Administrer l’asile en France (1920–1960) [Flüchtlinge und Staatenlose. Das Verwalten von Asyl in Frankreich], verfolgt das 2010 offiziell eingesetzte Komitee (Annexe, 385–390) auch mit dem zweiten Band die drei Ziele (9): Erstens die Geschichte des Asyls und der Flüchtlinge an der Schnittstelle zwischen verschiedenen historischen Problemstellungen zu erfassen (z. B. Salin, 289–312, zur Schnittstelle zwischen Flüchtlingsanerkennung und Arbeitsmarktpolitik); zweitens neue Quellen zu nutzen, insbesondere Anhand der Verknüpfung der Archivbestände des Ofpra und mit anderen Materialkorpora (z. B. der Beitrag von Mai Nguyễn-Tôn Nữ, 275–288); und drittens den analytischen Fokus der historischen Forschung auf die administrative Praxis und deren Spannungsverhältnis zu den rechtlichen und administrativen Normen des Asyls und Schutzes von Flüchtenden und Staatenlosen zu richten (z. B. Tiberghien, 145–164, Angoustures/Kévonian, 209–229).

Die Autoren und Autorinnen der 19 Kapitel (inklusive Einleitung und Schlusskapitel) lösen diese drei Ziele auf der Basis unterschiedlicher thematischer Perspektiven ein, was zu einer kohärenten und zugleich facettenreichen Veröffentlichung über den Flüchtlingsschutz zwischen 1960 et 1990 in Frankreich geführt hat. Sie geben darüber hinaus verschiedene methodologische und analytische Anregungen für die geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschungen in anderen Bereichen, wie etwa die Untersuchung der Arbeitsmigration, internationaler Organisationen oder der Diplomatie. Die Autoren des Sammelbandes führen in aufschlussreicher und innovativer Weise eine »mehrstimmige Geschichte [histoire chorale] des Schutzes von Flüchtlingen und Staatenlosen« vor Augen. Diese mehrstimmige Geschichtsschreibung erstreckt »sich über verschiedene Handlungsebenen und Räume«, berücksichtigt »den konstanten Wandel von Kategorisierungen« und weiß »Quellen in einem globalen Maßstab« miteinander zu verknüpfen (46). Die Einleitung des Sammelbands gibt darüber hinaus einen interessanten Überblick über Forschungsstand, Archivmaterial und methodologische Diskussion, was für weitere geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschung über Exil, Migration und Asylverwaltung äußerst hilfreich ist (15–40).

Das Ofpra ist das Amt, das in Frankreich für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus und der Gewährung des Schutzes von Staatenlosen und des territorialen Asyls (des subsidiären Schutzes seit 2003) zuständig ist und entsprechende nationale und internationale Rechtsvorschriften anwendet. Seit 2010 untersteht es dem französischen Innenministerium. Aline Angoustures und Dzivinar Kévonian stellen in ihrer informativen und bemerkenswerten Einleitung (9–44) das Ofpra in den historischen und normativen Kontext des untersuchten Zeitraums von 1960 bis 1990. Hierbei unterscheiden sie drei Dimensionen (10). Die erste betrifft Konfliktdynamiken und Fluchtkonstellationen, die durch den Kalten Krieg, die Entkolonialisierung und den Verflechtungen der beiden historischen Prozesse entstanden sind (vgl. ebenfalls Danielle Zwarthoed, 49–64; Dulphy, 233–247). Die zweite Dimension des historischen und normativen Kontexts geht auf die wachsenden Proteste gegen den »US-amerikanischen Imperialismus« und die kolonialen Kriege der westlichen Staaten zurück, die zum einen mit innerstaatlichen terroristischen Vereinigungen und zum anderen mit strukturellen Krisen ihrer sozialstaatlichen Regime aufgrund der wachsenden Arbeitslosigkeit konfrontiert sind (hierzu z. B. Álavarez Pérez, 165–179). Drittens stellt das Ofpra zwischen 1960 et 1990 einen zentralen Akteur dar, der die normativen Entwicklungen des internationalen Rechts zum Schutz von Flüchtenden und Staatenlosen in Frankreich umsetzt, z. B. die Ausweitung der Genfer Konvention (1951) auf nicht-europäische Flüchtlinge durch das Protokoll von New York (1967) oder die Genfer Konferenz zum territorialen Asyl von 1977 (13–14, vgl. auch Kleuser, 181–207 und Journoud, 113–128).

Die administrative Praxis des Ofpra steht in dieser Hinsicht für die spannungsgeladene Frage, ob ein souveräner Staat verpflichtet ist, Flüchtenden Asyl zu gewähren, oder aber aufgrund seiner Souveränität im Einzelfall darüber entscheiden kann, ob er einer Gruppe von Flüchtenden Asyl gewährt oder nicht. Die Einleitung von Angoustures und Kévonian (15–27) und mehrere Beiträge verdeutlichen, dass die Antwort auf diese Frage keine prinzipielle ist, sondern in der historisch situierten Praxis der Akteure des Ofpra und anderer politischer oder gesellschaftlicher französischer wie auch internationaler Akteure zu suchen ist (vgl. z. B. die Beiträge von Blum, 65–79, und Emeriau, 131–144).

Die Strukturierung des Sammelbands greift die drei genannten Kontextdimensionen in vier Abschnitten auf: 1. Entre Diplomatie de l’asile et catégorisations, 2. Nouvelles échelles, nouvelles pratiques?, 3. Après le statut, des vies sous protection, 4. Approches comparées et dynamiques transversales. Die Autoren und Autorinnen nehmen in ihren Beiträgen ganz unterschiedliche nationale und soziale Personengruppen in den Blick, die das Ofpra zwischen 1960 und 1990 als Flüchtlinge anerkannt oder abgelehnt hat: z. B. die Anerkennung der chilenischen Flüchtlinge, die 1973 im Zuge des Staatsstreichs gegen die Regierung Allendes in die französische Botschaft in Chile geflohen waren (Medelson, 99–111, Jammet-Arias, 249–273), die Rolle der französischen Diplomatie im Hinblick auf die Aufnahme von Flüchtlingen aus Vietnam, Kambodscha und Laos (1975–1980) (Journoud, 113–127) oder die Aufnahme sowjetischer Flüchtlinge zwischen 1960 und 1989 (Cœuré, 81–97). Ergänzt wird die Diversität der thematisierten Personengruppen in der Geschichte des Asyls und des Flüchtlingsschutzes in Frankreich durch die Beiträge des 4. Abschnitts, die die Anerkennung von Flüchtlingen in der Bundesrepublik und DDR zwischen den 1970er-Jahren und 1990 (Poutrus, 315–328), in Belgien zwischen 1952 und 1988 (Caestecker / Ecker, 345–370) und Ägypten zwischen 1967 und 1981 (El Asrag, 329–344) beschreiben.

Vor dem Hintergrund dieser Vielfältigkeit und der Öffnung von Vergleichshorizonten verlieren analytische Raster, wie etwa die Blockkonfrontation im Kalten Krieg, ihre Eindeutigkeit. Die Qualität des Sammelbandes liegt darin, dynamische Verflechtungen zwischen historischen Ereignissen und Entwicklungen in der Geschichte des Asyls und des Schutzes von Flüchtlingen und Staatenlosen in Frankreich aufzuzeigen und die »französische« Geschichte für Vergleiche mit anderen politischen, staatlichen oder administrativen Kontexten zu öffnen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Nikola Tietze, Rezension von/compte rendu de: Marianne Amar, Aline Angoustures, Dzovinar Kévonian, Anouche Kunth (dir.), Entre décolonisation et guerre froide. Administrer l’asile (1960–1990), Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2024, 400 p. (Histoire. Techniques, savoirs et sociétés), ISBN 978-2-7535-9700-6, DOI 10.4000/12apr, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2025/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2025.3.112744